Quelle: Unbekannt

Von Oliver Stortz

Stuttgart - „Ich strebe dieses Amt nicht an.“ Ein Mann. Sechs Worte. Punkt. Mehr mag Winfried Kretschmann nicht sagen zu den Spekulationen, er könnte der nächste Bundespräsident werden. Im Interview mit unserer Berliner Redaktion zeigte sich der grüne Ministerpräsident in der vergangenen Woche wortkarg mit Blick auf die Bundesversammlung, die am 12. Februar in Berlin den Nachfolger des aus dem höchsten Staatsamt scheidenden Joachim Gauck wählen soll.

Es könnten für Kretschmann lange fünfeinhalb Monate werden. Das Amt wäre die Krönung einer Politkarriere, die ungewöhnlicher kaum sein könnte. Doch der Wechsel des Regierungschefs nach Berlin würde auch die Karten in der Landespolitik neu mischen.

Längst denken grüne Strategen über die Zeit nach der Ära Kretschmann nach. Der Regierungschef ist 68 Jahre alt - dass er nochmals als Spitzenkandidat in eine Landtagswahl zieht, ist ausgeschlossen. Strategisch günstig wäre es aus grüner Sicht, den Wechsel an der Regierungsspitze im Laufe der Legislaturperiode zu vollziehen. Die Nachfolgerin oder der Nachfolger Kretschmanns hätte so bei der Landtagswahl 2021 bereits einen Amtsbonus. In Rheinland-Pfalz gelang es der SPD und ihrer Frontfrau Malu Dreyer auf diese Weise, sich nach dem Abgang Kurt Becks die Macht zu sichern - wenn auch mit vielen Bürden und Unwägbarkeiten.

Zwei gewichtige Gründe sprechen jedoch gegen dieses Vorgehen: Zum einen hat Kretschmann vor und auch nach der Landtagswahl im März versprochen, die Regierung volle fünf Jahre zu führen. Zum anderen könnte die CDU, die mit der Rolle des Juniorpartners hadert, den Abgang des beliebten Regierungschefs nutzen, um das grün-schwarze Bündnis vor der Zeit platzen zu lassen - und sei es nur, um es nach einer vorgezogenen Landtagswahl unter umgekehrten Vorzeichen mit einem Ministerpräsidenten Thomas Strobl an der Spitze wiederzubeleben.

Ein Umzug Kretschmanns von der Villa Reitzenstein ins Schloss Bellevue ist womöglich die einzige, gewiss aber die eleganteste Chance für die Südwest-Grünen, einen Wechsel an der Regierungsspitze ohne Kollateralschäden und Vertrauensverlust zu organisieren: Die Wahl zum Staatsoberhaupt könnten Kretschmann selbst seine ärgsten Kritiker kaum als Bruch eines Wahlversprechens ankreiden. Und die CDU könnte die Koalition in Stuttgart schwerlich aufkündigen, wenn sie Kretschmann in der Bundesversammlung selbst mit ins Präsidentenamt gehievt hat.

Nachdem ein nicht lange geheim gebliebenes Abendessen Kretschmanns mit Kanzlerin Angela Merkel im August Spekulationen über die Chancen des Grünen aufs höchste Staatsamt genährt hat, stehen die Signale in Berlin laut einem „Spiegel“-Bericht derzeit eher wieder auf einen Konsenskandidaten der Großen Koalition. Doch Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle, den die Regierenden schon deshalb gerne im Schloss Bellevue einziehen sähen, weil der selbstbewusste Jurist ihnen als Staatsoberhaupt weniger unbequem sein könnte denn als oberster Richter, soll abgewinkt haben. Die Wahl des deutsch-iranischen Schriftstellers Navid Kermani wäre zwar ein integrationspolitisches Signal, könnte aber von der wachsenden AfD-Anhängerschaft als Provokation empfunden werden. Das will vor allem die Union vermeiden. Der immer wieder gehandelte Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat die Sozialdemokraten zu oft verprellt, als dass sie ihn unterstützen würden. Dem früheren EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber werden zwar Restchancen eingeräumt, doch nach Joachim Gauck erneut einen evangelischen Theologen zu installieren, wird nicht nur im katholischen Bayern skeptisch gesehen. Gleiches gilt für Hubers Vorgängerin Margot Käßmann, die zudem noch als SPD-nah gilt. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) wäre grundsätzlich präsidiabel, hat allerdings mit der weiten Auslegung seines Amtes etliche Parlamentarier verprellt - nicht zuletzt in der Spitze der Unionsfraktion. Die Gemengelage ist unübersichtlich. Die Berliner Koalitionäre eint mit Blick auf die Bundesversammlung keine überzeugende Personalie, sondern vorläufig die bloße Angst, die Bundesversammlung könnte vom bisherigen Partner als Generalprobe für ein neues Bündnis nach der Bundestagswahl instrumentalisiert werden: Rot-Rot-Grün - R2G, wie in der Berliner Szene neuerdings hip abgekürzt wird - oder Schwarz-Grün.

Die Zeit spielt für Kretschmann: Je länger CDU, CSU und SPD keinen gemeinsamen Kandidaten präsentieren, desto wahrscheinlicher wird es, dass im Februar in der Bundesversammlung andere Mehrheiten zum Tragen kommen. Den Grünen fiele dann eine Schlüsselrolle zu: Sie könnten - spätestens im dritten Wahlgang, wenn eine einfache Mehrheit ausreicht - entweder mit SPD und Linken oder mit der Union ein Staatsoberhaupt wählen. Für die Ökopartei hat die Richtungsentscheidung das Potenzial zur Zerreißprobe zwischen den erfolgsverwöhnten, grün-schwarz geprägten Landespolitikern wie Kretschmann oder dem hessischen Spitzenmann Tarek Al-Wazir und der eher darbenden linksalternativen Bundespartei um Fraktionschef Anton Hofreiter und die Altvorderen Jürgen Trittin, Claudia Roth und Co.

Sich von einem Linksbündnis ins höchste Staatsamt wählen zu lassen, käme für Kretschmann kaum in Frage. Zwar verteidigte Kretschmann, der sich von kommunistischen Irrungen während seiner Studentenzeit offen distanziert, die Linkspartei zuletzt mehrmals vor Vergleichen mit der AfD. Und auch zu einigen Protagonisten der Partei wie seinem Thüringer Amtskollegen Bodo Ramelow wird ihm ein unverkrampftes Arbeitsverhältnis nachgesagt.

Doch Kretschmann, der Katholik, sieht die Aussöhnung von Ökologie und Ökonomie als sein politisches Vermächtnis. Seine Wahl zum Staatsoberhaupt mit Stimmen der Konservativen wäre das Ausrufezeichen hinter dieser Botschaft.

Für Merkel, die als Kanzlerin die SPD in zwei Koalitionen lahm- und die FDP in einer fast totgeritten hat, wäre eine Bündnisoption mit den Grünen nach der Bundestagswahl 2017 womöglich die Absicherung ihrer Macht. Ihre Flüchtlingspolitik goutierten die Grünen - allemal die „Realos“ um Kretschmann - mehr als viele eigene Leute. Und das jahrzehntelang größte Hindernis für Schwarz-Grün im Bund, den Atomausstieg als Gründungsmythos der Ökopartei, hat Merkel mit ihrer Energiewende längst abgeräumt.

Ein Amt „nicht anzustreben“ heißt nicht, für das Amt nicht zur Verfügung zu stehen. „Das Amt muss zum Mann kommen, nicht der Mann zum Amt“, predigte Kretschmanns christdemokratischer Vorgänger Erwin Teufel. Der Grüne hat ihn sich schon bei so mancher Ge- legenheit zu eigen gemacht.

Und schon bei Teufel war er nie ganz frei von Koketterie.

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