Das Mercedes-Benz-Werk Untertürkheim - im Vordergrund das imposante Museum - prägt das Neckartal und bietet 19 000 Menschen einen Arbeitsplatz. Foto: Daimler AG Quelle: Unbekannt

Esslingen - Vor einem Jahr hat Frank Deiss die Führung im Stammwerk der Daimler AG übernommen. Im Mercedes-Benz-Werk Untertürkheim wird in sechs Werkteilen entlang des Neckars mit mehr als 19 000 Mitarbeitern in Produktion und Verwaltung das Herzstück des Automobils produziert: Motor, Getriebe, Achsen und zugehörige Komponenten. Deiss sieht seine Aufgabe aber auch darin, das Traditionswerk für die Zukunft fit zu machen und den Wandel zur E-Mobilität zu gestalten.

Herr Deiss, bevor Sie nach Untertürkheim kamen, leiteten Sie mehrere Jahre das Joint-Venture-Werk von Daimler und dem chinesischen Partner BAIC in Peking. Worin unterscheiden sich die beiden Standorte am meisten?

Deiss: Zunächst gibt es in der Produktionsstruktur große Unterschiede. In Peking haben wir einen Standort auf der grünen Wiese, ein sogenanntes Greenfield. Es besteht aus zwei unterschiedlichen Pkw-Werken und in der Mitte ein Motorenwerk, ideal für die logistische Anbindung. Untertürkheim dagegen ist ein historisch gewachsenes Werk. Wir müssen hier die vorhandenen Flächen intelligent nutzen. Ein weiterer großer Unterschied: Untertürkheim ist das Leitwerk in unserem globalen Powertrain-Produktionsverbund. Hier qualifizieren wir Mitarbeiter und optimieren Prozesse für Anläufe an unseren internationalen Standorten.

Was konnten Sie in den ersten zwölf Monaten in Untertürkheim anstoßen?

Deiss: Das Jahr war geprägt vom Kennenlernen. Ich übernahm ein gut aufgestelltes Werk von meinem Vorgänger Peter Schabert. Ich wollte die Prozesse und die Mitarbeiter kennenlernen und das Werk nicht nur vom Schreibtisch aus steuern.

Daimler steigert kontinuierlich den Absatz der Fahrzeuge und damit auch die Produktion der Aggregate. Gleichzeitig ist die Fläche im Neckartal begrenzt. Es fehlen Grundstücke zum Bau neuer Fabriken. Wie bewältigt das Werk dennoch immer neue Produktionsrekorde?

Deiss: Darauf gibt das Zukunftsbild, das wir mit dem Betriebsrat vereinbart haben, eine Antwort. Das Werk Untertürkheim wird zum Kompetenzzentrum für hocheffiziente Motoren und Antriebe weiterentwickelt, aber auch zum Hightech-Standort. Wir kümmern uns um die konventionellen Antriebe, also die Verbrennungsmotoren, bei denen wir auch weiterhin Potenziale sehen. Darüber hinaus treiben wir in Untertürkheim die Plug-In-Hybrid- und die Brennstoffzellen-Technologie voran.

Werden Aufgaben ausgelagert?

Deiss: Ja, nicht wettbewerbsdifferenzierende Umfänge wie die Seitenwellen-Produktion haben wir an andere Standorte verlegt. Das haben wir gemeinsam mit dem Betriebsrat vereinbart. Im Gegenzug holen wir neue Entwicklungen ins Werk. So sieht für uns eine professionelle und intelligente Bewirtschaftung der Flächen aus.

Für diesen Umbau investiert Daimler Hunderte Millionen Euro ins Werk. Wie sehen die Fabriken der Zukunft aus?

Deiss: Wer heute am Werk Untertürkheim vorbeifährt, sieht relativ wenig Umbauaktivitäten. Diese finden in den Hallen statt. Trotz steigender Stückzahl von Aggregaten kommen wir mit der Fläche klar. Dazu verbessern wir permanent die Fertigungslinien. Wir haben agile Produktionssysteme im Einsatz, die es uns erlauben, sehr flexibel auf Nachfrageschwankungen zu reagieren. Wir können heute Vier-, Sechszylinder-, Otto- und Dieselmotoren auf der gleichen Linie fertigen.

Zur E-Mobilität: Dieter Zetsche hat in Paris die Initiative Daimler EQ vorgestellt. Das Thema gewinnt an Fahrt. Im Zukunftsbild Untertürkheim geht es um das Miteinander der Verbrennungsmotoren und der Brennstoffzelle sowie der E-Mobilität. Wie sieht der Fahrplan dieses Wandels aus?

Deiss: Es wäre falsch, sich auf nur eine Antriebsart zu fokussieren. Das machen wir nicht. Der konventionelle Verbrennungsmotor wird noch lange ein Schwerpunkt unseres Produktportfolios bleiben. Gleichzeitig erfolgt der Einstieg in die Plug-In-Hybrid-Technologie. Bei dieser kommen neben einer Batterie noch Verbrennungsmotor und Getriebe aus dem Werk Untertürkheim zum Einsatz. Dies stärkt das Werk. Nicht vergessen dürfen wir die Brennstoffzelle. Darüber hinaus überlegen wir uns, wie der Standort längerfristig transformiert werden kann.

Untertürkheim ist also kein Auslaufmodell?

Deiss: Nein. Das Werk Untertürkheim hat alle Fähigkeiten und Kompetenzen sowie die Motivation der Menschen, sich auf die neuen Entwicklungen einzulassen. Wir machen uns gerade Gedanken, wie sich das Werk im Rahmen der E-Mobilität positionieren kann. Aber nochmals: Der konventionelle Antrieb wird uns noch lange, sehr lange erhalten bleiben. Wir schauen, dass wir das, was wir gut können, weiter verbessern und uns auf die neuen Themen sukzessive einstellen.

Wie stimmen Sie die Mitarbeiter auf den Wandel ein?

Deiss: Wir müssen kommunizieren und informieren, und zwar schnell und ausführlich. Unsere Mitarbeiter sind hoch motiviert, sich auf den Wandel einzulassen. Dies geht nur miteinander, auch mit dem Betriebsrat.

Was wird dieser Umbruch für die Zulieferer in der Region bedeuten?

Deiss: Die Automobilindustrie ist ein hochkomplexes Gebilde, eine arbeitsteilige Wirtschaft auf globaler Basis. Da bedarf es auch einer Änderung auf der Zuliefererseite.

Der Diesel ist momentan im Gespräch. Der Ruf ist angekratzt. Hat der Dieselmotor eine Zukunft? Kann er 133 Jahre nach der Erfindung des Motors noch verbessert werden?

Deiss: Ja. Das beste Beispiel ist der OM 654, den wir jetzt in Untertürkheim vom Band laufen lassen. Das Aggregat kommt in der neuen E-Klasse zum Einsatz und kommt bei den Kunden gut an. Er erfüllt bereits heute die für die EU geplanten strengeren Emissionsgrenzwerte. Da haben wir neue Maßstäbe gesetzt, und wir sehen noch weiteres Entwicklungspotenzial.

Im Zuge der Entwicklung hin zur E-Mobilität drängen neue Unternehmen und Hersteller auf den Markt. Internet-Riesen wie Google und Apple zeigen Interesse. Ein Risiko für den Erfinder des Automobils?

Deiss: Ich weiß nicht, was Google und Apple vorhaben. Wir nehmen jeden Wettbewerber ernst. Man muss konstatieren, dass die Barrieren für einen Markteinstieg bei elektrisch betriebenen Fahrzeugen deutlich niedriger sind als bei der konventionellen Motortechnik.

Fürchten Sie das Silicon Valley?

Deiss: Nein. Wir waren dort und haben es uns angesehen. Ich sage: Das Neckar Valley ist mindestens genauso spannend wie das Silicon Valley.

Das Mercedes-Werk ist eingebettet in Wohngebiete. Wie können Belastungen durch Emissionen gering gehalten werden?

Deiss: Wir nehmen den Umweltschutz extrem ernst. Die Umweltziele sind fest verankert in der Unternehmensphilosophie. Wir wollen ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn. Schließlich wohnen auch viele unserer Mitarbeiter und Kollegen hier.

Umfassen die Anstrengungen auch das Thema Verkehrsbelastung? Sie hatten ja ein Logistikzentrum in Esslingen geplant.

Deiss: Ja, aber wir haben zur Kenntnis genommen, dass die Bürgerschaft sich gegen das Projekt entschieden hat. Deswegen haben wir es gestoppt. Es ist zurückgestellt. Nun suchen wir Flächen für die Konzentrierung der Logistik. Dabei hoffen wir auch auf die Stadt Stuttgart. Ebenfalls ein Beitrag zur Emissionsvermeidung in der Landeshauptstadt ist, dass wir unseren Mitarbeitern jetzt das Jobticket anbieten.

Apropos Zukunft: Daimler bildet seit hundert Jahren Auszubildenden im Werk aus. Sie kennen sich in der Welt aus. Geben Sie den jungen Menschen einen Tipp: Was müssen Azubis mitbringen, um für die Zukunft gerüstet zu sein.

Deiss: Neben anderen Fähigkeiten, die sie von der Schule mitbekommen sollten, müssen sie motiviert und offen für Neues sein. Wichtig ist außerdem, die eigene Meinung äußern zu können. Auf diese Sekundärfähigkeiten achten wir.

Das Interview führte Mathias Kuhn.