Tatort Schnellrestaurant: Eine Polizistin bei der Spurensicherung in der Reutlinger Innenstadt. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Stephan Zenke

Reutlingen - Weiße Kreidezeichen auf dem Gehweg, dort, wo der mutmaßliche Täter in Handschellen lag. Kerzen, Blumen und Karten zum Gedenken am Tatort neben dem Zentralen Omnibusbahnhof. Das ist alles, was gestern noch von den Grausamkeiten des Sonntags zu sehen ist. Doch in den Seelen der Menschen an der Karlstraße hat die Bluttat hörbar und sichtbar tiefe Spuren hinterlassen. Viele versuchen zu verarbeiten, wie quasi direkt vor ihren Augen ein 21-Jähriger erst seine 45-jährige Kollegin mit dem Messer getötet und dann auf seiner Flucht fünf Menschen verletzte. Wie gestern bekannt wird, waren Täter und Opfer wohl auch ein Paar.

Erinnerungen werden wach

„Ich habe das erste Mal in meinem Leben einen Mörder gesehen“, sagt Marco Greco gedankenverloren, „der hat uns alle am Boden liegend angeschaut“. Dieser Blick geht ihm nicht mehr aus dem Sinn. Lisa Körner ist Marcos Freundin, und mit 20 Jahren ein Jahr jünger als der Messer-Mann. Lisa kann das Drama kaum fassen. „Wir sind von Metzingen nach Reutlingen gefahren, um Pokémon Go zu spielen, waren zufällig Minuten nach der Tat hier“, meint sie. Dann ein Satz, der nachdenklich macht: „Man ist irgendwie nirgends mehr sicher.“

Neben den beiden jungen Leuten steht mit Varinder Pal Singh ein Erwachsener, der aus eigener leidvoller Erfahrung besonders betroffen ist. „Vor drei Jahren hat mich ein Asylbewerber aus Ecuador in meinem Laden an der Bahnhofstraße mit acht Messerstichen lebensgefährlich verletzt“, sagt der Besitzer eines Modegeschäfts. Dabei blickt er mit ernster Miene auf den Schauplatz Karlstraße, spricht leise weiter. „Ich lag zwei Wochen im Krankenhaus, habe kein Schmerzensgeld bekommen. Niemand hat sich um mich gekümmert“, erzählt Singh - und er zeigt seine Narben an Kopf, Nacken und Arm. Das grausame Geschehen ist überall Gesprächsthema.

Wo an der Karlstraße Currywurst und Pommes für beste Freunde serviert werden, diskutieren einige Männer mit einem Fernsehteam des Südwestrundfunks ihre Eindrücke, wollen aber nicht gefilmt werden. Um die Ecke in der Stadtbachstraße ist am Tatort eine improvisierte Gedenkstätte entstanden. Hier steht ein Grüppchen von Mädchen, lauter Schülerinnen der Matthäus-Beger-Schule, und fasst sich mit Tränen in den Augen an den Händen. Irgendwer hat Kerzen und Grablichter aufgestellt, Blumen niedergelegt. Zeit für etwas stilles Gedenken am Rande des Busbahnhofs, auf dem die Busse wie immer ganz normal abfahren und ankommen.

Für Hasan Bibilik wird so schnell nichts wieder normal sein. Der Mitarbeiter des König Kebap ist dem Messer-Mann am Sonntag ganz nahe gekommen, nur die Glastüre des Restaurants hat ihn vom mutmaßlichen Täter getrennt. „Ich habe gearbeitet, wie immer an der Theke. Dann ist auf einmal die Kundschaft abgehauen. Draußen waren alle weg. Ich habe die Tür zugehalten, als der Mann mit dem blutigen Messer reinwollte“, berichtet er. „Niemals hätte ich gedacht, dass es sowas in Reutlingen gibt. Jetzt habe ich Angst“, meint Bibilik. Ein paar Schritte weiter die Karlstraße aufwärts in Richtung Kaufhaus arbeitet seit zehn Jahren die Frau, deren Neffe von vielen als Held gefeiert wird.

Autofahrer stoppte den Täter

„Mein Neffe Alper M. hat den BMW gefahren“, sagt Perihan Kantarci im Palast Kebap. Das weiße Auto kollidierte mit dem Messer-Mann, der daraufhin von der Polizei festgenommen werden konnte. Davor haben sich nach Kantarcis Worten dramatische Szenen abgespielt: „Ich habe gesehen, wie der Mann mit dem blutigen Messer vorbeigerannt ist. Dann wollte er wohl die Menschen in einem roten Auto umbringen. Er hat schwarze Augen gehabt, der wollte töten. Der Mann ist hinter Polizisten hergerannt.“ Und wie geht es ihrem Neffen, dem BMW-Fahrer, der den Täter auf seiner Flucht stoppte? „Er ist schockiert, aber jetzt im Urlaub. Die Polizei hat sich bei ihm bedankt.“