Ab sofort Vergangenheit: Stéphane Denève dirigiert das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart. Foto: SWR/Uwe Ditz Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Romeo und Julias erstes Mal war für das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (RSO) das letzte Mal. Mit der Aufführung von Berlioz’ „Roméo et Juliette“ in der Leitung von Chefdirigent Stéphane Denève sagte der Klangkörper seinem hiesigen Publikum Adieu. Am kommenden Donnerstag folgt dann der definitiv letzte Auftritt des vor 70 Jahren gegründeten Orchesters: gerade nicht in Stuttgart, sondern bei den Londoner Proms. Roger Norrington, langjähriger RSO-Chef und Erfinder des vibratolosen, längst zum Schlagwort avancierten „Stuttgart Sound“, wird den Schwanengesang in der Royal Albert Hall dirigieren. Alles weitere haben die Rundfunkgewaltigen unter Anleitung von SWR-Intendant Peter Boudgoust entschieden: Das RSO muss mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg zu einem Mega-Klangkörper ver- und im Laufe der Zeit personell abschmelzen, um den gewünschten Spareffekt zu erreichen. Denn der Rundfunk drückt zwar locker mal ein paar Milliönchen für Sportmoderatoren oder Fußballrechte ab, doch bei der Kultur klingeln eben die Nischenprogramm-Alarmglocken und wecken Einspar-Reflexe. Auch wenn es musikalisch noch so blödsinnig ist, zwei Orchester mit unterschiedlicher Tradition und unterschiedlichen Schwerpunkten zusammenzuwürfeln.

Standing Ovations statt Proteste

Doch die einst heftigen Proteste sind verstummt, die Sache ist durch, im Stuttgarter Beethovensaal gab es jetzt zum Abschied nur noch Standing Ovations: wohl auch rückwirkend für Jahrzehnte der Klangkultur, für interessante Programme, überhaupt für das RSO und seine Geschichte, die nun zu Ende gehen muss. Und gerne würde man auch der letzten Stuttgarter Aufführung final-frenetischen Applaus spenden, aber das kann man leider nur eingeschränkt.

Denève gibt Berlioz’ vokalsymphonischem Koloss unbestritten großes Format - dieser hybriden Mixtur aus sinfonischer Dichtung, Kantate und Oper, ästhetisch höchst anfechtbar, aber gerade in seinen Brüchen, seinen Ungeheuerlichkeiten, seiner Zangengeburt der Musik aus dem Geist der Shakespeare’schen Tragödie ein klingendes Manifest romantischer Grenzüberschreitung. Aber bei Denève klingt das Ungeheuer, das nicht nur in Blechsalven Laut gibt, sondern beispielsweise auch im irrlichternden, feinstmotorischen Instrumentationsspuk des Scherzos von der Traumfee Mab, trotz allen Breitwand-Sounds gezähmt. Generell geht der Dirigent zu schnell in den vollen Klang, um dann die modellierende und aufgipfelnde Kraft im Fortissimo zu verlieren. So klingt die Festszene nach Romeos monologisch brütender, einstimmiger Violinmelodie schlichtweg zu kultiviert, auch wenn zuvor der rhythmische Rumor vom Tanzsaal sauber und prägnant in die Einsamkeit des Liebenden eingeblendet wurde. Dem tumultuarischen Exzess am Satzende, der in Julias zarte Oboenmelodie bricht, mangelt jedenfalls das Orgiastische.

Überzeugend ist Denèves Interpretation immer dann, wenn der Maestro nach Herzenslust kolorieren, sich in Klangfarben ergehen kann (so auch in der Zugabe, dem „Jardin féerique“ aus Ravels „Ma mère l‘oye“). Machmal fehlt zwar der Transparentmarker, doch die Klangbalance wird stets gewahrt - an Kulminationspunkten freilich auf Kosten der Wucht. Die Verliebtheit ins klangfarbliche Detail führt indes in der zentralen Liebesszene auch zu einer wie zusammengebastelt wirkenden Pusseligkeit. Bei allem seidigen Glanz der emotional, aber nicht sentimental beleuchteten Melodik, bei allen luzide aufgefächerten Motivschichtungen will sich die wahre Glut der Erregungsmomente nicht so recht einstellen. Es klingt miniaturisierend und kontrollierend zugleich - was dann freilich als punktgenaue Präzision den vielen, unendlich fein ausgehörten Klangepisoden bis hin zum Totenglöcklein der scheintoten Julia zugute kommt.

Grandios dafür das die Chorparts mit dem SWR Vokalensemble, dem NDR Chor und den Herren der Europa-Chor-Akademie: klar deklamierend in der kleineren Prolog-Besetzung, in stadiontauglicher Massenpracht im hymnischen Finale. Die Prolog-Soli sangen die Mezzosopranistin Clémentine Margaine mit kehliger Intensität und der Tenor Loïc Félix mit flinker Beweglichkeit. Dem Pater Lorenzo - der einzigen vokalen Rollenfigur - verlieh der Bariton Laurent Naouri Kraft und sinnfällig timbrierenden Ausdruck im Trauer- und Ankläger-Pathos, wenn auch nicht ganz ohne mulmende Tonspuren.