Derwisch an den Tasten: Organist Cameron Carpenter. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Dietholf Zerweck

Ludwigsburg - „Es war einmal“. So beginnt Cornelius Meister sein Konzert mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien bei den Ludwigsburger Festspielen, die hier als Kooperationspartner mit dem hauseigenen Klassik-Forum dabei sind. Das passt gut zum Saison-Motto „Passagen, Erzählungen“, denn Antonin Dvoráks „Mittagshexe“ erzählt ein grausames Märchen, bei dem ein unartiges Kind und seine der schwarzen Pädagogik vertrauende Mutter zu Schaden kommen. „Wenn du nicht brav bist, dann kommt die Mittagshexe“ rezitiert der Dirigent auf dem Podium und erwähnt noch die zwölf Glockenschläge, nach denen der Spuk verschwindet, der Vater aber bei der Heimkehr von der Arbeit die Frau ohnmächtig und das Kind tot auffindet.

Die musikalische Erzählung des ORF-Orchesters wirkt zum Auftakt noch etwas gebremst, so sehr der junge Pultstar - seit 2010 ist der inzwischen 36-jährige Chefdirigent der Radiosinfoniker - seinen Musikern auch mit energischen Armgesten die dramatischen Impulse weitergibt. Vielleicht liegt’s an der großen M&O-Elektronikorgel, die schon für Cameron Carpenter aufgebaut ist und einen Teil der Streicher verdeckt. Alles wartet natürlich auf den Auftritt des Virtuosen und Exzentrikers, der sich von den Bostoner Orgelpionieren Marshall&Ogletree ein tonnenschweres mobiles Instrument bauen hat lassen, welches mit Tiefladern auf die Bühne gestemmt wurde. Im Rücken des Orchesters sind 48 mächtige Lautsprecherboxen platziert, und als Carpenter mit dem Rücken zum Publikum auf der Bank seines Instruments Platz genommen hat, beginnt ein spektakuläres Event: Seine Bearbeitung von Rachmaninows Rhapsodie über ein Thema von Paganini mit dessen 24 Variationen ist Zirkus und Ohrenkitzel zugleich: eine brillante Show. Wie Kobolde tanzen die Glitzerboots über die Pedale, und was Cameron Carpenter auf den fünf Manualen aus den unzähligen Digitalregistern an Klängen zwischen Wurlitzer-Sound und kathedraler Pracht produziert, ist schon irre. Dieses Instrument kann fauchen wie ein Raubtier, krächzen wie ein Krähenschwarm, wie ein Feuerwerk blitzen und funkeln und knallen - und singen und dröhnen in vielerlei Art, mit Meister und dem Orchester als dankbarer Kulisse.

Bei seinen drei Zugaben bringt Carpenter noch einmal alle seine Künste in Aktion: Bachs g-Moll-Fuge als manualer und pedaler Seiltänzerakt, ein Swing-Evergreen und den „Stars and Stripes“-Marsch - alles vom Publikum ausgiebig bejubelt.

In Robert Schumanns vierter Sinfonie nach der Pause konnte das ORF Symphonie-Orchester Wien zeigen, dass es sich unter Cornelius Meisters engagierter künstlerischer Leitung zu einem ausdrucksvollen, in den Bläsergruppen sehr gut besetzten Klangkörper entwickelt hat. Überraschend viele Frauen - allein an sieben der acht ersten Pulte bei den Streichern - spielen in diesem Wiener Orchester, gegenüber der Männerdomäne bei den Philharmonikern ein absolutes Kontrastprogramm. Prächtig in der Farbigkeit der Tutti, überzeugend in den Proportionen und äußerst spannend in der Entwicklung der einzelnen Sätze, gelang Cornelius Meister eine eindrucksvolle Interpretation der Schumann-Sinfonie.