Von Thomas Krazeisen

Esslingen - Bis vor wenigen Augenblicken, als er noch am Leben war, fürchtete er weder Gott noch Teufel und schon gar nicht seine Mitmenschen. Doch jetzt, da er als untoter Toter neben seiner eigenen Leiche herumgeistert, wird Bum ganz bang zumute. Der skrupellose Unternehmer ahnt, dass seinem irdischen Höhenflug ein tiefer Höllensturz folgen könnte. Und hinauf in den Himmel, wohin es selbst noch ein überfahrener Dackel schafft - dorthin möchte dann auch er schon ganz gerne. War schließlich kein schlechter Mensch, auch wenn manche behaupteten, er sei ein ziemliches Schwein gewesen. „Bin nie fromm gewesen, aber Fairness war immer mein oberster Grundsatz“, adressiert der nach seinem zweiten, tödlichen Herzinfarkt unsanft aus der Lebensbahn Geworfene mit Unschuldsmiene himmelwärts.

Vor dem jüngsten Gericht erwartet ihn erst einmal ein ganz weltliches Tribunal auf der Bühne des Esslinger Schauspielhauses. Dort hatte jetzt Karl Wittlingers „Seelenwanderung“ Premiere, ursprünglich ein preisgekrönter Fernsehfilm, der Anfang der Sechzigerjahre erfolgreich lief, ehe der Autor selbst noch eine Bühnenadaption verfasste. Regisseur Klaus Hemmerle hat die ironische Parabel auf den bundesrepublikanischen Nachkriegsboom inszeniert, für den, so die Moral von Wittlingers Geschicht‘, zivilgesellschaftlich mit dem Ausverkauf der Menschlichkeit ein denkbar hoher Preis bezahlt wurde. Nun hat der Rekurs auf „weiche“ Währungen, auf Verantwortungsgefühl und Nachhaltigkeit, auch in der globalen Waren- und Wertewelt des 21. Jahrhunderts mit all ihren smarten Risk- und Compliance-Management-Versprechungen nichts an Aktualität eingebüßt. Auf der anderen Seite kommt Wittlingers Moritat über einen armen Schlucker, eine sprichwörtliche Seele von Mensch, der dann, nachdem er, simsalabim, seine Humanität in der Pfandleihe gewinnbringend angelegt (und sie dazu in einem Schuhkarton abgelegt) hat, zum gewissenlosen Wirtschaftsboss mutiert, als Zeitphysiognomie der jungen Bundesrepublik doch eher blässlich daher.

Stringente Dramaturgie

Wer dieses Stück heute mit Gewinn auf die Bühne bringen will, muss vor allem sein zeitenthobenes Potenzial als schwarze Komödie, als bitterböse Justizposse, als Groteske mit Anleihen aus dem Mysterienspiel und dem romantischen Märchen à la „Das kalte Herz“ freilegen. Hemmerle und einem exzellenten Schauspieler-Ensemble gelingt das mit bemerkenswerter Souveränität. Der Regisseur zeigt ein schlackenloses Kammerspiel zwischenmenschlicher Befindlichkeiten und individueller Begehrlichkeiten - theaterpädagogische Altlasten des Autors wie ein Leierkastenmann und ein kommentierender „Direktor“ sind konsequent entsorgt, Personage und Text verschlankt, die Szenen dramaturgisch schlüssig mit der finalen Gerichtsszene neu gerahmt. Das Setting spielt intelligent mit Zeit- und Theaterräumen - Frank Chamier hat vor einem angedeuteten Bühnenrahmen mit sparsamer Requisite eine variable Kulissenwelt geschaffen, aus der die Schauspieler im Handumdrehen eine Kneipe, ein Pfandhaus, einen Gerichts- oder auch einen Aussegnungssaal erstehen lassen. Starre Lochblech-Abstraktionen und verschiebbare Wände mit patinierten Fotos zerbombter Städte und bunten Werbeprospekten aus der cleanen Sunil- und Sissi-Welt der BRD-Kinder- und Jugendjahre atmen Geist wie Ungeist einer im Entstehen begriffenen neuen Gesellschaft zwischen Zusammenbruch, Wiederaufbau und Aufbruch, in der das Vergangene freilich noch nicht recht vergehen will: Im Pfandleihhaus lugt hinter einer Wohnzimmeruhr ein Hitler-Bild hervor, ein Wahlplakat mit dem Konterfei des Alt-Nazis und Adenauer-Ministers Oberländer erinnert dezent an die postfaschistischen Nebenwirkungen der neuen Wirtschaftswunderdroge.

Famose Schauspieler

Dass man am Ende dieser zweistündigen „Seelenwanderung“ beglückt den Heimweg antritt, liegt neben der Regie an den famosen Schauspielern. Wie Antonio Lallo den atemberaubenden Aufstieg des armen Würstchens Bum zum titel- und ordensdekorierten, aber gefühlsverwahrlosten hohen Gesellschaftstier verkörpert und Ralph Hönicke als sein alter Freund Axel seine eigenen ökonomischen Machtfantasien wie seinen chronischen Harndrang hochnotkomisch in den Griff zu bekommen sucht, ist brillant. Ulf Deutscher überzeugt in einer Mehrfachrolle als Pfandleiher Maximilian wie als Richter und Pastor, Christian A. Koch gibt den kriegsversehrten Wirt Hugo passend als guten Kumpel. Bums vorzeigbare Lebensabschnittsgattinnen (trefflich: Anne-Julia Koller und Sofie Alice Miller) offenbaren nach dessen Tod ihre wahre Seite - sie ist deckungsgleich mit der Seelenlosigkeit des Verblichenen.

Die nächsten Aufführungen: morgen sowie 22. Februar und 24. März.