Von Christian Marquart

Stuttgart - Der „unerwartete“ Ausgang der Präsidentenwahl in den USA zerrüttete nicht nur das Selbstbewusstsein der westlichen Medien, er stürzte auch die demokratisch-liberalen Eliten in Amerika und Europa in tiefe Depression: Warum schaffen sie es plötzlich nicht mehr, sich in die Gedankenwelten der Unterprivilegierten, der Abgehängten, der noch verbliebenen Arbeiterklasse, der gesellschaftlichen Minderheiten etc. einzufühlen, für deren Wohlergehen sie sich doch jahrzehntelang einsetzten?

Dabei war Trumps Sieg in den USA nicht unwahrscheinlich gewesen, und er wurde auch nicht nur von der Unterschicht gewählt. Die Demoskopen sahen beide Kandidaten nahezu gleichauf, und die statistische Schwankungsbreite der Umfragedaten machte einen knappen Sieg und eine knappe Niederlage auf beiden Seiten etwa gleich wahrscheinlich. Ähnlich sieht es nun in Österreich aus, wo am Sonntag wieder mal Präsidentenwahl ist. Aber die Medien wagen jetzt keine Prognosen mehr.

Natürlich - im Vergleich zu den USA ist Österreich ein Zwergstaat, eine weltpolitische Mikrobe. Aber für Europa hat es Signalwirkung, ob die Alpenrepublik nun einen fast smart wirkenden Rechtspopulisten - Norbert Hofer von der FPÖ - oder einen von ferne vielleicht etwas bedächtig wirkenden Demokraten zum Präsidenten machen wird. Wir können immerhin froh sein, dass der Kandidat Alexander van der Bellen von den Grünen im „demokratischen Lager“ nicht entfernt so umstritten respektive verhasst ist wie die US-Kandidatin Hillary Clinton, die Trump unterlag. Und es ist tröstlich, da der österreichische Präsident letztlich „nur“ als oberster Repräsentant des Staats figuriert und folglich mit sehr viel weniger politischer Macht ausgestattet ist als sein künftiger amerikanischer Kollege, der sich im Wahlkampf mit seiner Politikferne und Volksnähe brüstete und nun plötzlich lauter Milliardäre in seine Regierungsmannschaft holt.

Wie kürzlich in den USA geht es in Österreich nun um eine Persönlichkeitswahl, hier im Nachbarland sogar um eine direkte. Zwei Kandidaten treten an. Wäre es in den USA um die absolute Mehrheit der Bürgerstimmen und nicht um die Zahl von „Wahlmännern“ gegangen, hätte Hillary Clinton die Wahl gewonnen - wohl kaum wegen eines profilscharfen politischen Programms.

Aber wie demokratiehaltig sind eigentlich nach demokratischen Spielregeln abgehaltene Wahlen, bei denen es immer öfter nur noch um die Antwort auf eine möglichst schlicht formulierte Ja-Nein-Frage geht? Sind Sie für oder gegen Europa? Krieg oder Frieden? Globalisierung oder nationale Souveränität? Sicherheit oder Unsicherheit? Ordnung oder Chaos? Mitgefühl oder Egoismus? Antworten Sie schnell, es ist keine Gelegenheit für Zwischentöne; für abwägende Debatten; für kluge Differenzierungen. Schon gar nicht ist genug Zeit für die Suche nach Lösungen jenseits einer schnell behaupteten Alternativlosigkeit oder jener eingeschränkten binären Logik des „Entweder-Oder“. Die Vorbereitung politischer Entscheidungen beruht nicht selten auf unangemessenen, höchst fragwürdigen Methoden der Reduktion von Komplexität: Das kann ein künstlich erzeugter Zeitdruck sein, welche überhastete Entscheidungen fast erzwingt - Beispiel: die geplante „vorläufige“ Inkraftsetzung von umstrittenen, weil geheim verabredeten internationalen Freihandelsabkommen; das können auch bewusst gewählte falsche Prämissen sein, die zu falschen Schlüssen führen - Beispiel nochmal die aktuellen Freihandelsabkommen, von deren (gering veranschlagten) Wachstumsimpulsen und Erträgen vorzugsweise große Unternehmen profitieren werden, während alle Risiken bei den jeweiligen Heimatstaaten, sprich: Steuerzahlern hängen bleiben.

Politische Kreativität

Die Praxis politischer Entscheidungsfindung ist, wenn „Alternativlosigkeit“ angesagt ist oder die Bevorzugung einer von nur zwei Optionen, praktisch immer die Wahl eines „kleineren“ Übels; und gleichzeitig wird dann kaum je „leidenschaftlich gerungen“ um bessere Lösungen - vielmehr handelt es sich beim Streit in politischen Gremien meist nur um eine Form des Deals: mal gibt der eine Koalitionspartner nach, mal der andere. Und da Politiker immer in Eile sind, werden alle Deals, über die inhaltlich zu debattieren wäre, ziemlich hastig ausgehandelt: Keine Zeit für andere, weitere Alternativlösungen, für politische Kreativität.

Politische Kreativität - was soll das schon sein? Ist es nicht das Dilemma moderner Demokratien, dass sie neuerdings permanent Entscheidungen fallen in „postfaktischen“ Szenarien, in denen kein Verlass mehr ist auf eine konsensfähige Problembeschreibung? Jeder Hans und Franz kann ja heute im Internet, in den Sozialen Medien, unter dem Beifall vieler Gesinnungsgenossen spontan eigene Wirklichkeiten fern jeder Realität konstruieren. Gibt es den Klimawandel, ja oder nein? Handeln militante „Reichsbürger“ hier unter dem Schutz des Kriegsrechts?

Bürger, die - sofern sie bei Wahlterminen oder Referenden um Zustimmung bzw. Ablehnung gebeten werden, um dann nur zwischen zwei oder drei „kleineren Übeln“ wählen zu dürfen - gehen schon als Opfer des modernen Populismus und seiner „postfaktischen“ Strategien zur Wahl, bevor sie überhaupt je an Populisten gedacht oder deren verlogenen Slogans zugehört haben. Es handelt sich allerdings um dieselben Bürger, die tendenziell zu träge sind, sich bei „echten“, ernst gemeinten Partizipationsangeboten in der Sphäre der Kommunal- oder Stadtteilpolitik zu engagieren: Dort trifft man regelmäßig Volkstribune im Gartenzwergformat, die sich als Nachwuchs-Populisten erfolgreich Redezeit (weniger Gehör) verschaffen und auf diese Weise oft das seriöse Engagement weniger lauter Bürger überdecken und neutralisieren. Populismus heute? Das sind: Fake News, übersetzt: dreiste Lügen; Rechthaberei und wechselseitige Bestätigung in den Echokammern der Sozialen Medien; atomisierte „Schwarmintelligenz“ ohne besonders ausgeprägte Intelligenz; nicht zuletzt „Bots“, die als programmierte Algorithmen im Internet „künstlich“ und heimlich Meinung verbreiten und machen: Was wird da aus der Politik?

Eine Lösung wäre, zurückzukehren zu den konkreten Gegenständen und Problemen politischen Handelns. Ursachen und Lösungsansätze viel ausgiebiger und ohne selbst verordneten Zeitdruck zu diskutieren. Im Kern also: Politik kreativer zu machen.

So wie die Schweden kürzlich. Die Regierung wollte etwas tun gegen die grassierende Wegwerfkultur und die damit verbundene Vergeudung wertvoller Rohstoffe - und das möglichst elegant und marktkonform. Die Lösung: Der Mehrwertsteuersatz für die Reparatur von Gerätschaften des Alltags wird stark reduziert, was den Anreiz zum Kauf neuer Produkte mindern wird. So geht wahrhaft populistische Politik.