Ihm zu Ehren hat sich die halbe Ballettwelt in Stuttgart versammelt: Intendant Reid Anderson. Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Zehn Tage lang volles Haus im Staatstheater, dazu zweimal volle Wiese beim Ballett im Park, und an drei Tagen war parallel auch noch der große Saal im Theaterhaus mit „Nijinski“ ausverkauft - hallo Berlin, die deutsche Tanzhauptstadt heißt Stuttgart! Mit einer viereinhalbstündigen Gala wurde am Sonntag der Abschluss der Ballettfestwoche gefeiert, Intendant Reid Anderson bekam dabei hinreißende Pas de deux seiner Tänzer und internationaler Gäste beschert, vier Uraufführungen, eine glitzernde Revue - und die deutsche Staatsbürgerschaft.

Bei den Würdigungsreden leistete Ministerpräsident Winfried Kretschmann Abbitte, dass es so lange gedauert habe mit dem Bau der Cranko-Schule. Oberbürgermeister Fritz Kuhn brachte dem Kanadier Anderson und seinem amerikanischen Stellvertreter und Nachfolger Tamas Detrich ihre Urkunden der deutschen Staatsbürgerschaft mit, die beide vor kurzem beantragt hatten (natürlich nach korrekter behördlicher Prüfung). Die bei weitem kenntnisreichste und lustigste Rede hielt mit Bundestagspräsident Norbert Lammert ein erklärter Ballettfan, seine schöne Laudatio auf Anderson funkelte vor Pointen und ordnete die Verdienste des Ballettchefs schließlich irgendwo zwischen Augustinus und Queen Elizabeth ein.

Getanzt wurde dann doch noch, die Cranko-Schüler setzten mit ihren „Etüden“ ein erstes triumphierendes Ausrufezeichen vor einem staatstragenden Défilé des gesamten Ensembles. Dann machten Andersons Freunde und langjährige Weggefährten die magische Zahl von 100 Uraufführungen in 20 Jahren voll, zunächst mit einem tiefenentspannten Quartett, das der scheidende Mannheimer Ballettchef Kevin O’Day lässig-lasziv ins Nichts tanzen ließ. Zwei mondsüchtige Androiden schienen in Edward Clugs faszinierendem Duo die Liebe zu entdecken, Hyo-Jung Kang und Pablo von Sternenfels versuchten staunend, aus einer mechanischen Begrenztheit auszubrechen. Zum alten „Greensleeves“-Lied kreierte Itzik Galili ein bewegungsmäßig einfallsreiches Duo, in dem die herausfordernde Anna Osadcenko ihren gestreckten Fuß auf allen möglichen und unmöglichen Körperteilen Jason Reillys deponierte. In kühlem Hellgrau übte sich Douglas Lee an der existenzialistischen Form der Körperverschlingung; mehrmals stand zu befürchten, dass Alicia Amatriain von ihrem Partner Constantine Allen derart verbogen wird, dass nichts mehr zu reparieren ist.

Internationale Gäste

Zu den internationalen Gästen gehörten die ehemaligen Stuttgarter Elisa Carillo Cabrera und Mikhail Kaniskin, die zu zentralen Solisten des Staatsballetts Berlin geworden sind; nach 20 Jahren war wieder etwas von Nacho Duato auf der Stuttgarter Bühne zu sehen, nämlich der sehr sinnlich auf einer Tänzerin Cello spielende Thomaskantor aus seinem großen Johann-Sebastian-Bach-Ballett.

Gestern noch Kostümbildner, heute wieder Tänzer: Thomas Lempertz, noch ein Ehemaliger, zeigte das großartige, vom Altern angenagte Solo aus „Greyhounds“, das Marco Goecke im Herbst fürs Theaterhaus choreografierte. John Neumeiers intellektuelle Theatralik brachten Hélène Bouchet und Carsten Jung vom Hamburger Ballett mit, in der zarten Annäherung zwei völlig unterschiedlicher Menschen aus „Liliom“. Natürlich war der große Choreograf aus Hamburg auch höchstpersönlich gekommen, um seinem Freund Anderson zu gratulieren, wie überhaupt die halbe Ballettwelt in dieser Woche in Stuttgart versammelt war, bis hin zu ehrwürdigen Namen wie Sir Peter Wright, einem der allerersten Stuttgarter Mitstreiter John Crankos.

Willkommene Gäste waren Julien Favreau und Kathleen Rae Thielhelm vom Béjart Ballet Lausanne, leider blieb ihr Pas de deux von Gil Roman eher oberflächlich. Die große Diva des Abends war Diana Vishneva vom Mariinsky-Ballett: Gemeinsam mit Friedemann Vogel verwandelte sie den in Stuttgart nur allzu bekannten Pas de deux aus Mauro Bigonzettis „Kazimir’s Colours“ in eine dramatische Liebesgeschichte von dunkelglühender Intensität.

Was für ein Reichtum an Stilen, an Persönlichkeiten und auserwählten Tänzerstars, unter denen sich die Stuttgarter Solisten aber fröhlich behaupteten - Anna Osadcenko etwa als königliches Dornröschen mit mädchenhaften Zügen neben dem Bolschoi-Star Semyon Chudin, dessen sensationelle und akademisch perfekte Virtuosität den Urschrei des Abends zeitigte. Alicia Amatriain tanzte mit Mathieu Ganio, Etoile der Pariser Oper; er verband in einem Ausschnitt der „Kameliendame“ die Eleganz der französischen Schule mit einem feinen Seelenadel und einer fast staunend erwachenden Leidenschaft. St. Petersburg hin, Paris her: Niemand funkelte an diesem Abend wie unsere kleine Spanierin Elisa Badenes, zuerst als schwarze Verführerin Odile im Pas de deux aus „Schwanensee“ mit Constantine Allen, später in einer schlichtweg hinreißenden Interpretation von George Balanchines „Tschaikowsky Pas de deux“ mit dem brillanten Friedemann Vogel. Das sind die wahren Gala-Highlights, nicht die virtuosen Knallbonbons, sondern ein derart losgelöster, freudestrahlender, glücklicher Tanz.

Klassik, Barock und Jazz

Das silberglitzernde Finale bestritt das Stuttgarter Ballett laut singend, mit der Schlussnummer aus dem Musical „A Chorus Line“, liebevoll umgedichtet auf den Jubilar. Sie reckten die Zylinder und schmissen ihre langen Beine, die große Revue-Nummer hatte der unermüdliche Tamas Detrich nach der Originalchoreografie von Michael Bennett arrangiert. „One singular sensation“ schmetterten sie ihrem Ballettchef entgegen, auch diese Nummer begleitete das Staatsorchester, das an diesem Abend zwischen Klassik, Barock und Jazz von James Tuggle und Wolfgang Heinz geleitet wurde. Luftballons und Konfetti waren obligatorisch, draußen beim Ballett im Park wurde noch lauter gejubelt als im Haus. Die Gäste aus Moskau, Berlin, Lausanne oder Paris eilten mit auf den Außenbalkon des Opernhauses, um sich fürs Publikum im Park noch einmal zu verbeugen. Zu Hause werden sie sicherlich von einer völlig ballettverrückten Stadt erzählen.