Entindividualisierung im virtuellen öffentlichen Raum: Die „Center Jennies“ in Ryan Trecartins gleichnamigem Video wollen alle gleich sein. Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Esslingen - Die vier angolanischen Kinder haben sich in Kuhlen am Strand eingebuddelt, irgendwo in der Nähe der Hauptstadt Luanda. Gefilmt aus der Rückperspektive ragen nur die Hinterköpfe über den Sand, die Blicke sind aufs weite Meer gerichtet. Dort in der Ferne, jenseits des Horizonts, liegt Amerika, Europa, das bessere Leben. Auto spielen die Jungs in ihren Sandlöchern, viersitzige Limousine, Abfahrt und Aufbruch. Sie fahren dorthin, wohin ihre Gedanken schweifen, ihre altklugen Ideen und frechen Illusionen; wo es Geld gibt und italienische Ehefrauen, wo jeder ein Flugzeug hat. Eben Europa, Amerika, besseres Leben.

Ein Sehnsuchtsbild, spielerisch zwar, aber auch mythisch, verknüpft mit uralten Erzählungen von einer freien und freilich nur idealen Bewegung im Raum, einer imaginären Aufhebung der in räumlicher Distanz bestehenden Entfremdung. Und so weckt die Sprache der Bilder nur scheinbar entlegene Assoziationen, etwa an Anselm Feuerbachs „Iphigenie“, im Zwangsexil den Blick über das Meer schweifen lassend, das ersehnte Land mit der Seele suchend. Nur die Vorzeichen sind umgekehrt. Nicht mehr die Heimat, wie im europäisch-antiken Mythos, sondern die Ferne scheint in globalisierter Migrationsmoderne für ein Leben ohne Entfremdung zu bürgen.

Jene Strandszene stammt aus der Videoarbeit „Cambeck“ des angolanischen Künstlers Binelde Hyrcan. Sie beleuchtet - wie auch Hyrcans andere, durchaus grotesk-witzige Videos - die sozialen Kehrseiten des Luanda-Booms, die Sphäre jener, die am Aufschwung durch chinesisches Investorenkapital nicht partizipieren. In der Esslinger Ausstellung „Good Space - politische, ästhetische und urbane Räume“ - der zweiten Folge von Crossing Media, seit 2013 Nachfolgeprojekt der Stadtischen Galerien für die frühere Foto-Triennale - sind Hyrcans Arbeiten einer von vielen Belegen. Die Schau in der Villa Merkel, dem Bahnwärterhaus und dem Merkelpark widmet sich zwar erklärtermaßen dem sogenannten öffentlichen Raum. Aber sie realisiert vor allem, dass dieser Raum selbst zum Mythos wurde, zur überkommenen Vorstellung, die im Spannungsfeld von Virtualisierung, Globalisierung und Massenmigration aufgehoben wird und doch unter veränderten Vorzeichen wiederkehrt. Im physisch-geographischen Sinne sind öffentliche Räume nur noch als Grenzregionen - oder als Sonderfälle - des ungeheuren und entgrenzenden Cyberspace lokalisierbar. Aber die Mythologie der Raum-Erfahrung bleibt in einem sehr physischen Sinne erhalten, zum Beispiel jene der Rettung aus gefährlichen, lebensbedrohenden Räumen. Ihr widmet sich das Schweizer Duo Christoph Wachter und Mathias Jud. Was auf den ersten Blick wie ein Geist in der Plastikflasche aussieht, ist der Eigenbau-Sender ihres weltweiten Notruf-Projekts. Günstig herzustellen und über ein Netzwerk von Nicht-Regierungsorganisationen zu verwirklichen soll das Sendesystem namentlich Flüchtlingen in Seenot, letztlich aber jedem und jeder an jedem Ort und in jeder Lage die Chance bieten, Hilfe herbeizurufen. Ein Projekt also der realen Intervention mit durchaus politischer Stoßrichtung, zugleich eine Art „Veröffentlichung“ von bislang der Öffentlichkeit entzogenen Räumen.

Ebenfalls ein ganz konkretes Modell zur Lösung realer Probleme ist die „Jellyfish Barge“ (Quallenbarke) der italienischen Biologen- und Architektengruppe Pnat: ein schwimmendes Gewächshaus im Merkelpark-Teich, das Wasser als Nährlösung für pflanzliche Lebensmittel einsetzt - auch verschmutztes oder salzhaltiges Wasser. Pnat reagiert mit seiner durch Solarenergie betriebenen Gemüse-Arche auf die Notwendigkeit einer ökologischen Ernährung der Weltbevölkerung und zugleich auf eine „Raumlosigkeit“ eigener Art: den Mangel an verfügbaren und erreichbaren Anbauflächen in vielen Metropolen der sogenannten dritten Welt, die jedoch oftmals über zahlreiche Wasserflächen verfügen.

Solche Projekte definieren öffentliche Räume in einer wesentlich erweiterten Bedeutung - fernab jener Fußgängerzonen-Möblierung, die seit den Pionierzeiten öffentlicher Raumplanung in den 60er-Jahren als Inbegriff des viel strapazierten Stichworts gelten mag, zumindest in den Weltregionen gediegenen Wohlstands. Dass überhaupt der Gegensatz von Intimität und Öffentlichkeit auf den heutigen Virtualienmärkten obsolet geworden ist, beweisen einige Videoarbeiten der Ausstellung mit Material aus dem Internet. Öffentlichkeit konstituiert sich hier gerade durch die nach außen, in die Netz-Community gestülpte Intimität. Wobei genau die Intimität in einer Art Cyber-Dialektik dann wieder ins Unpersönliche umschlägt: So zu sehen im trashig-lauten Video „Center Jenny“ des US-amerikanischen Künstlers Ryan Trecartin. In grell bewegten Momenten werden Protagonisten einer exhibitionistischen Selfie- und Selbstdarstellungsmanie porträtiert, die sich irgendwo zwischen Casting-Show und Konsumfetischismus in weibliche oder transvestitische Avatare verwandeln; in gleichartige Kunstwesen, die eben keine Diversity und keine Gender-Identität mehr ausleben, sondern dem kreischenden Ideal vollkommener Entindividualisierung entgegenstreben.

Jon Rafmans Video „Mainsqueeze“ wiederum collagiert - in Anlehnung an die „Mondo“-Filme der 60er-Jahre - Bizarres, Absonderliches und Perverses aus jenen Zonen des weltweiten Netzes, wo Cyberjunkies ihre Kicks suchen. Das Auspressen („squeeze“), dem ein leibhaftiger Krebs ebenso zum Opfer fällt wie ein ejakulierender Penis in einem computeranimierten Porno, ist die optische Klammer dieses nüchtern konstatierenden statt bewertenden Samplings.

An die Stelle des Gegensatzes von Intimität und Öffentlichkeit ist der von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit getreten, und gerade daraus leitet die deutsche Künstlerin Hito Steyerl ihr subversiv-ironische Strategie des Verschwindens im öffentlichen Überwachungsraum ab. Ihr Video „How not to be seen: a Fucking Didactic Educational MOV.File“ parodiert einen Lehrfilm in mehrerer Lektionen mit dem Lernziel: sich unsichtbar machen - zum Beispiel durch Umzug in ein Militärcamp, durch Schminken oder durch Verwandlung in einen Pixel (mit Stoffwürfel auf dem Kopf). Alles zu ironischen Kommentaren à la „Heutzutage wollen die wichtigsten Dinge unsichtbar bleiben“.

Den umgekehrten Weg verfolgt die Gruppe Sam Arka mit ihrem „Bio-mapping“-Raum im Bahnwärterhaus: Durch Sensoren werden Lebenszeichen wie Puls oder Bewegung registriert und in wunderschön geometrischen Strukturen visualisiert. Stephen Willats’ „Data Stream Portrait“ an einer langen Stellwand ist ein Bild-Text-Raster von Passanten in zwei New Yorker Straßen, ein Video Martin Creeds liefert den Kontrapunkt: Gehbehinderte überqueren dort eine Kreuzung - selbstbewusst und höchst unkonventionell.

Die pneumatische Architektur der Gruppe raumlaborberlin schließlich, eine luftgefüllte Blase im Wintergarten der Villa, knüpft an die historische Folie der Ausstellung an: ein Kabinett in der Schau, gewidmet dem österreichischen Architekturmagazin „Bau“ aus den 60er-Jahren. Auch hier wurden, gegen die Hartkanten-Moderne, pneumatisch-mobile Projekte entworfen.

Was der sehenswerten und anregenden „Good Space“-Schau zur Eröffnung noch fehlt, ist eine ihrer Attraktionen: Jasper Niens’ begehbare Röhrenwurm-Großskulptur im Merkelpark wird ob der Komplexität ihrer Realisierung erst in den nächsten Tagen fertig.

„Good Space“ wird heute um 19 Uhr in der Esslinger Villa Merkel eröffnet und ist bis 21. August zu sehen. Öffnungszeiten: dienstags von 11 bis 20 Uhr, mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr.

Rahmenprogramm und weitere Infos unter www.villa-merkel.de.