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The Who waren immer schon lauter, gefährlicher als die Beatles oder die Stones. Und sind es bis heute. Townshend beackert seine rote Fender-Gitarre wie ein Metzger sein Fleisch, liebkost sie, kämpft mit ihr.

Von Björn Springorum

Stuttgart - Es wäre nicht verwunderlich, wenn der kolossale Sound-Wall, den The Who am Montagabend in der hitzegefüllten Schleyer-Halle errichteten, bis hinüber nach England zu hören gewesen wäre. Oder doch zumindest bis nach Esslingen. Natürlich sind die 60er-Jahre längst vorbei, das ist mittlerweile sogar den Ewiggestrigen klar, wenn eine Sixties-Legende wie The Who ihren 50. Geburtstag auf Tournee feiert. Rund 12 000 Besucher spürten dennoch die Nachwirkungen des Bebens, das diese Band in ihren Ursprungsjahren auf der Welt verursacht hat. Roh war dieses Konzert, laut bis ins Mark und von epochaler Wucht, die absolute Antithese zu einer Bande handzahmer Rentner-Rocker, die bisweilen deutlich weniger lang aktiv sind.

Seit zwei Jahren auf Jubiläumstournee, die die Band selbst als „langen Abschied“ bezeichnet, stehen Roger Daltrey und Pete Townshend nach beinahe 20 Jahren nun also wieder auf einer Stuttgarter Bühne. So verwunderlich es auch sein mag, dass es zu diesem Ereignis noch Tickets an der Abendkasse gibt, so sehr passt es zu den Mod-Pionieren The Who. Sie waren immer schon lauter, gefährlicher als die Beatles oder die Stones. Und sind es bis heute.

Lange ist es her, dass zuletzt eine Band dieses Renommees auf Stuttgarts größter Bühne eine derartig entfesselte, archetypisch rohe und vor Leidenschaft nur so strotzende Show liefert. Deep Purples Konzerte sind Mitklatsch-Arien und die Stones feiern Karneval in den größten Stadien, doch The Who rocken die Konzertarena derart offensiv in Grund und Boden, dass die Kinnlade regelmäßig hinunterklappt und der Sinn eines bestuhlten Konzerts schon beim eröffnenden „Who Are You“ hinterfragt werden darf.

Die Gründer Pete Townshend und Sänger Roger Daltrey, beide jenseits der Siebzig und in bewundernswert guter Verfassung, haben eine sechsköpfige Band um sich geschart, in der mit Bassist Pino Palladino einer der gefragtesten Tieftöner der Welt neben Petes Bruder Simon und Ringo Starrs Sohn, Schlagzeuger Zak Starkey, spielt. Allstar-Band würden manche dazu sagen; für The Who sind es einfach die richtigen Leute für den richtigen Job. Und die Show stiehlt den beiden Schulfreunden aus London eh niemand. Vor einer riesigen LED-Leinwand, mit der man auf berührende Weise der verstorbenen Mitglieder Keith Moon und John Entwistle gedenkt - ganz Rock’n’Roll auch mit Karikaturen und wilden Collagen - erleben die beiden altgedienten Generäle des Rock einen dritten Frühling.

„The Kids Are Alright“, „I Can See For Miles“, „My Generation“ - wer Stücke wie diese nacheinander spielen kann, ist wahrhaft beschenkt mit einem Fundus, von dem viele Bands nur träumen können. Nichts hält die Zuschauer auf ihren Stühlen, es kommt sogar zu Rangeleien und heillos überfordertem Sicherheitspersonal. Wenn das von einer Band ausgelöst wird, die ihren 50. Geburtstag begeht, kann man sich nur zu gut vorstellen, was da in den Sechzigern los gewesen sein muss.

Damals wie heute ist Townshends Gitarrenspiel ein magnetischer Anziehungspunkt. Er lässt seine ikonische Windmühle kreisen und kreisen, schickt Donnerhall und Eruptionen in Gestalt massiver Riffs ins Hallenrund, beackert seine rote Fender-Gitarre wie ein Metzger sein Fleisch, liebkost sie, kämpft mit ihr, kann sie kaum bändigen.

Das zerrissene „Behind Blue Eyes“ oder das Instrumental „The Rock“, bei der zu Townshends enthemmter Ekstase an den Saiten eine aufwühlende Menschheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts über die Leinwand flimmert, stellen den Gitarristen in den Vordergrund, nur zu gern überlässt Daltrey seinem Kollegen das Rampenlicht. Er weiß eben, dass seine Momente in den gut zwei Stunden Spielzeit alles andere als spärlich gesät sind. Der theatrale Schmiss von „Bargain“, der unsterbliche „Pinball Wizard“ oder zwei Stücke von „Tommy“, der Blueprint aller folgenden Rock-Opern von Pink Floyd bis Meat Loaf, geben ihm genügend Gelegenheit, sein Talent als Ausnahmesänger mit beeindruckendem Stimmumfang unter Beweis zu stellen. Ein Urschrei, nicht weniger.

Als der Furor nach 120 Minuten mit „Won’t Get Fooled Again“ ein Ende hat und die Saalbeleuchtung nach den tosenden Standing Ovations wieder die Realität zulässt, weiß niemand so recht, was er sagen soll. Warum auch - es wurde ja bereits alles gesagt.