Beim Citizen.Kane.Kollektiv kommt die Menschlichkeit des Friedens aus der Weite menschenleerer Funktionsareale. Foto: Alex Wunsch Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Keine Spur von Mittelmeer hier am Mittelkai des Stuttgarter Hafens, wo der Dauerregen durchs löchrige Wellblechdach tröpfelt, wo eiskalter Wind die Kaimauern entlang neckaraufwärts bläst. Dafür das Gegenteil von Flussromantik: Lagersilos, Kräne, Anlegestellen zum Löschen der Fracht, der träge in seinem Kanalbett dümpelnde Schwabenstrom. An diesem Ort zeigt der propere Wohlstand seine Kehrseite von Frachtgut, Industrie, Containern, Schrott, Erdaushub. Rau, aber friedlich.

Gegen eine raue, aber unfriedliche, brutale, tödliche Kehrseite aller Zivilisation kämpfte der israelische Friedensaktivist Abie Nathan: gegen den Krieg, namentlich den im Nahen Osten. 1973 ging er auf einem Schiff im südöstlichen Mittelmeer mit seinem Piratensender „The Voice of Peace“ auf Sendung. Die angesagteste Pop-Musik der Zeit war sozusagen das Ticket für die Ohren der israelischen wie palästinensischen Jugend, um dort nebst coolen Sounds der Stimme des Friedens Gehör zu verschaffen.

Offen für Assoziiertes

Abie Nathan ist der Held in der neuen Performance des Stuttgarter Citizen.Kane.Kollektivs, das aus ihm, seinem Leben und Wirken titelgemäß ein „Prinzip“ machen will. Also kein Bio-Play, kein Nacherzählen der fürwahr hollywoodtauglichen Lebensgeschichte, sondern ein sinnliches Ausloten und spielerisches Reflektieren modernen Heldentums, zwar exemplarisch aufgezeigt an Bezügen zu Nathans Biographie, doch offen für Assoziiertes und Übertragenes (weshalb gelegentlich ein „Chor der Stuttgarter Engagierten“ aus dem raunenden Off eingeblendet wird, von Kabarettist Peter Grohmann bis zum örtlichen Stolpersteine-Initiator Harald Stingele).

Naturgemäß bürgt das Hafen-Ambiente für treffliche Großraum-Bilder, Real-Zooms der aus weiten Funktionsarealen erscheinenden oder in ihnen verschwindenden Akteure unter den 16 vielfach und teils travestierend die Rollen wechselnden Mitwirkenden. Und gerade ohne mediterranes Flair schält sich im Stuttgarter Industriehafen, wo die Dimensionen groß und Menschen mickrig wirken, die wesentliche Gemeinsamkeit mit dem Senderpiratentum des einsamen Rufers in der maritimen Wüste heraus: Alles ist im Fluss, alles ein Ort des Übergangs und Austauschs, ein Transitonien transportierter Güter hier, der möglichst zum Besseren zu wendenden Weltgeschichte da.

Weil aber die Kane-Kollektivisten nicht nur Performance- und Theater-Künstler, sondern auch eine formidable Band sind, gibt es allerlei Rock und Pop auf die Ohren, von Flowerpower-Flair bis zum Kuschelfaktor samt Bed-in: Auf Hafenbahngleisen rollt eine breite Matratze an, einzelne Zuschauer dürfen mit hineinschlupfen, man steckt friedensbewegt unter einer Decke. Die Wohlfühlzone im Unbehaglichen entspricht dem Piratensender-Prinzip Abie Nathans, und wenn wir schon beim Radio sind, setzt es auch Live-Features zu Leben und Wirken des Helden. Alles schön anzuhören und anzuschauen, zwar nicht frei von Langatmigkeit, dafür grundiert von hochmögenden Philosophien des Heldentums und seinen aus Alpträumen gespeisten Wunschträumen. Nur: Man kapiert nichts ohne Kenntnis von Nathans Biographie.

Deshalb geht der Hafen-Performance ein Info-Parcours in sieben Stationen ab der Stadtbahnhaltestelle Hedelfinger Straße voraus, der bei der Premiere leider ins Regenwasser fiel. Container am Mittelkai boten stattdessen der staunenswerten Vita eines Mannes Obdach, der 1927 als Sohn jüdischer Eltern im Iran geboren wurde. Er flog Bombenangriffe im Dienst des neu gegründeten Staates Israel, war zutiefst erschüttert, als er ein von ihm bombardiertes Dorf besuchte, kaufte einer schwer verletzten Frau einen Rollstuhl, dem Frieden galt nunmehr sein Kampf. Mithilfe einer Spendenaktion von Marseiller Prostituierten konnte er sein Senderschiff flott machen, zuvor war er auf einem Friedensflug ins feindliche Ägypten angeblich abgestürzt und gestorben, tatsächlich hat er überlebt (und wurde zu einer Geldstrafe verurteilt). Das Menschliche war ihm nicht fremd, er verliebte sich in eine spanische Tellerwäscherin in Israel, scheiterte am Zwischenmenschlichen, starb als einsamer Friedenskämpfer 2008: mittellos, von vielen bewundert, für viele ein Staatsfeind.

In der Darstellung des Kane-Kollektivs ist das Prinzip Abie Nathan eine Art archetypische, mythische Heldengeschichte. Szenenbilder von abstürzenden Tellerwürfen bis zum fliegenden Modellflugzeug sind auf entsprechende biographischen Momente bezogen und zugleich eingespannt in die Polarität von Schatten und Licht, Grauen und Frieden. Nathans „Wertvollstes“, wie er sagt, ist der von der Frau im Rollstuhl verkörperte Alptraum, der produktiv umschlägt in den Traum einer friedlichen Welt. Doch er wurde so wenig erfüllt wie seine narzisstische Variante: In einer Traumszene bedankt sich Nathan für den Friedensnobelpreis. Tatsächlich bekamen ihn 1994, nach den Osloer Verträgen, nur Jassir Arafat, Schimon Peres und Jitzchak Rabin. Der Aktivist ging leer aus, der Frieden letztlich auch.

Weitere Vorstellungen: heute sowie 11., 12. und 13. August. Beginn ist jeweils um 19.30 Uhr an der Stadtbahnhaltestelle Hedelfinger Straße der Linien 9 und 13 (Hedelfinger Straße 61 in Stuttgart-Wangen). Karten sind erhältlich unter Tel. 0176/982 187 02 oder karten@citizenkane.de.