Jazz und Tanz werden eins. Foto: Hans Kumpf Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Vier Jazzer im sibirischen Schlafwagenabteil? Besonders gepflegt scheint der Zug sie nicht empfangen zu haben, glaubt man den Andeutungen von Magnus Mehl, aber dafür gibt es jetzt das Stück „Coupé to Moscow“ mit einem großartigen, fast außer sich geratenden Solo für den Rottweiler Saxofonisten. Die Nacht im Schlafwagen wäre sicher auch eine originelle Vorlage für ein Tanzstück gewesen, aber die zweite „Dance/Jazz Fusion“ ging bei den Jazztagen im Theaterhaus lieber ins Experimentelle, tanzte sich noch freier als die erste vor zwei Jahren, als sich die Choreografie stärker am klassischen Jazz Dance orientierte.

Bestärkt vom damaligen Erfolg, wagten die vier großartigen Solisten vom Stuttgarter Ballett in ihren eigenen Kreationen mehr Improvisation und holten sich für ein langes Stück Marco Goecke dazu, den (Hoffentlich-noch-)Hauschoreografen des Staatstheaters. Wie unmittelbar sein Stück aus der Arbeit mit dem Ferenc und Magnus Mehl Quartett entstand, war deutlich zu sehen: Wo Goecke der Musik sonst manchmal misstraut, ihr gegenteilige Strukturen entgegensetzt oder sie assoziativ wahrnimmt, da sitzen die Bewegungen hier oft so spontan auf Ferenc Mehls Taktschlägen, als jage der Schlagzeuger direkte Stromstöße in die Sohlen der Tänzer. Goeckes Sprache ist offener, weniger nervös, er hängt sich stattdessen stärker in die Spannungen, lässt sich zu den Synkopen geradezu gehen - es sieht aus, als hätten die Jazzer eine neue Türe bei ihm geöffnet, ein weiteres Entwicklungspotenzial seiner ungewöhnlichen Sprache freigesetzt.

Pablo von Sternenfels etwa sortierte in einem Solo seine Körperteile, die Hand fremdelte mit dem Gesicht und fand stattdessen Inspiration im Schambereich, Robert Robinson und Elisa Badenes flüsterten mit ihren Stimmen und Körpern zu einem bluesigen Intermezzo. Michaela Springers minimalistische Kostüme sahen ein wenig aus, als fließe silbernes Horror-Blut aus den Hosentaschen, vielleicht waren es aber auch digitale Regler-Ausschläge. Wo die vier Tänzer sich dann mit improvisierten Choreografien auf unbekannteres Terrain wagten, wo sie mit oder gerade gegen ihre Balletteleganz neue Ausdrucksformen suchten, da belegten die Jazzer, was sie für Virtuosen ihres Faches sind - Ferenc Mehl und Gitarrist Martin Schulte mit eigenwilligen Soloausflügen, letzterer etwa in „Fall in Oblivion“, Kontrabassist Fedor Ruskuc mit melancholisch gestrichenen Melodien, Magnus Mehl mit hingehauchten Pizzicatiläufen auf dem Saxofon. Rücken an Rücken erfühlten Agnes Su und Elisa Badenes blind ihre Bewegungen, später schienen sich ihre Köpfe in einem verspielten Duett magisch anzuziehen. Robinson streute knochenlose Breakdance-Moves in seine Improvisation, von Sternenfels kreiselte in einem wilden Solo um sich selbst. Das Stück endete im buddhistischen Schneidersitz für alle. Das Experiment ist für die Tänzer sicher größer als für die Musiker, die gegenseitige Inspiration aber, so war deutlich zu sehen, beflügelte an diesem Abend beide Künste und sie wird sicher nachwirken.