Mal klischeehaft aufreizende „Pop-Lolita“, mal Kind in einer absurden Erwachsenenwelt - die Perspektiven wechseln. Foto: Conny Mirbach/oh Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Wir schreddern das Stück, schmeißen die Teile in die Luft und wer was fängt, der improvisiert mal damit. Nach dieser Methode, so fühlt es sich jedenfalls in der ersten Hälfte des Abends an, hat Regisseur Christopher Rüping im Stuttgarter Staatsschauspiel den Skandalroman „Lolita“ zerlegt und in zahllose Ebenen, Perspektiven und Personenteile aufgesplittert. Erst spät, für manche Zuschauer zu spät, setzen sie sich zu einem Gesamtbild zusammen.

Der Exilrusse Vladimir Nabokov stieß 1955 das biedere Amerika vor den Kopf, als er die Liebe eines Literaturgelehrten zu seiner zwölfjährigen Stieftochter schilderte. Dabei machte der Schriftsteller aus dem wortgewaltigen Pädophilen Humbert Humbert einen erschreckenden und doch fast sympathischen Ich-Erzähler, einen zynischen, glasklaren Beobachter seiner selbst, der Lolita bis hin zum Mord verfallen ist. Da man im Schauspielhaus, will man dem Bühnengeplänkel am Anfang glauben, die Rechte an einer Dramatisierung des Romans nicht bekommen hat, hielt sich Rüping an das ausführliche Drehbuch, das Nabokov wenige Jahre später für Stanley Kubrick verfasste. Der berühmte Regisseur nannte es zwar „das beste Drehbuch, das je in Hollywood geschrieben wurde“, verwendete aber kaum eine Zeile daraus.

Ähnlich hält es auch Rüping, dessen Inszenierung mit einer adretten Realsatire auf die erste Konzeptionsprobe der Produktion beginnt. Bewusst stümperhaft stellt sein Ensemble das Leben von Humbert Humbert nach: Ein Frauenkleid auf dem Bügel wird mit der Angel herumgeschwenkt, das deutet den Tod der Mutter an. Jemand liest das Drehbuch dazu vor, Goldstaub regnet beim Berühren der Hände herab, wonnig werden Windmaschinen herumgeschoben. Die Schauspieler erzeugen Nebel, Rauch und Seifenblasen, das Stück badet in billigen Effekten und reiht in einer verwaschenen Schnitttechnik Momentaufnahme an Momentaufnahme, um ja keine Stringenz, keine Illusion aufkommen zu lassen. Munter werden Regieanweisungen in die Texte hineingemixt, im völlig nackten Bühnenraum schiebt man ein paar Treppen und Zimmer aus Sperrholz zur dreistöckigen Wohnung von Lolitas Mutter zusammen. Die spielt Birgit Unterweger trotz kurzfristigen, krankheitsbedingten Einspringens als wonnevoll-wollüstige Dame der Gesellschaft.

Dekonstruktion des Drehbuchs

Denn mit männlichen Schmetterlingen in Ganzkörpertrikots oder einer sprechenden Freiheitsstatue macht sich der erste, kolossal überinszenierte Teil durchweg über Nabokovs Text lustig. Da explodiert das Haus in einer lauten Party mit vielen, auch bärtigen Lolita-Doubles, die binnen Minuten die Bühne vollmüllen, nur damit später zwei fleißige Helferlein in Slapstick-Einlagen wieder aufräumen. Da wird der Unfall, dem Lolitas Mutter im entscheidenden Moment zum Opfer fällt, in echter Harald-Schmidt-Manier an einer Tafel mit Strichmännchen und Zeigestock erklärt. Ständig verfängt sich die Regie in diesen exaltierten Rüschen, zerpuzzelt mit riesigem Aufwand Nabokovs Drehbuch, dekonstruiert es auf alberne, manchmal läppische Weise und lässt uns mit den Teilen allein. Mit deutlich mehr Tempo wäre das vielleicht unterhaltsam - so aber schmerzt es, wenn Regisseur Rüping den sprachlich so subtilen, kunstfertigen Stil des Romans auf Trash-Niveau herunterzoomt.

Natürlich werden auch die Figuren aufgesplittert: alle vier beteiligten Männer sind irgendwann Humbert Humbert, Lolita setzt sich aus zwei Frauen und einem Mädchen zusammen. Auf den zynischen Peer Oscar Musinowski folgt im ersten Teil Andreas Leupold, wesentlich älter als der 36-jährige Erzähler des Romans, als typischer Pädophiler, der sich mit behutsamen Tricks an das Kind heranmacht. Er verfällt und verschmuddelt zunehmend unter seiner Reue, erschießt sich dann - um als aggressives Duo Infernale aus Paul Grill und Matti Krause wiederzukehren.

Erst im zweiten, dichteren Teil versteht man, was der Regisseur will: er kreist die Rollen von Opfer und Täter ein und wechselt ständig die Perspektiven. Ist Lolita die aufgedrehte Kindfrau mit Lolli im Mund, die es nur darauf anlegt, ältere Männer zu verführen? Svenja Liesau wickelt sich aufreizend um den Stiefvater herum. Ist sie, in Person der cool-abschätzigen Julischka Eichel, die abgeklärte Ehefrau, als die Humbert sie später wiedertrifft, oder doch einfach ein zwölfjähriges Mädchen, verloren im Strudel einer völlig absurden Erwachsenenwelt? Inmitten ihrer manchmal arg überdrehten Kollegen bewahrt die großartige Jana Neumann, um die 13 oder 14 Jahre alt und als Kinderdarstellerin bereits in „Effi Briest“ im Einsatz, eine innere Ruhe, die in dieser Umgebung fast unheimlich wirkt. Zum Schluss sitzt sie nur da und die Humberts kommen nicht gegen ihre kindliche Würde an.

Bevor sich die vervielfachten Lolitas und Humberts wie in einem Kaleidoskop gegenseitig vernichten, wird der Pädophile selbst zum Nymphchen, Ödipus irrt mit blutenden Augen über die Bühne und knallende Luftballons markieren Todesschüsse. Endlich entwickelt der Abend eine Faszination, auf die man allzu lange warten musste.

Weitere Aufführungen: 11., 14. November, 2., 8., 18., 21. Dezember

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