Fulminante Show mit Pop, Gospel und Jazz: Frank Winkels gibt Martin Luther mit beeindruckender singdarstellerischer Präsenz. Foto: Veranstalter Quelle: Unbekannt

Von Thomas Krazeisen

Stuttgart - Martin wer? „L-u-t-h-e-r“. Luthers Name muss man in Stuttgart nicht groß buchstabieren - so wie im Prolog des Pop-Oratoriums über den Reformator. In Württemberg, das einst als „lutherisches Spanien“ galt, kann man mit seinem Namen noch etwas anfangen. Die Porsche-Arena war am Wochenende gleich zweimal ausverkauft, es hätten locker noch mehr als 11 000 Tickets verkauft werden können.

Ein kleines Heimspiel war die Stuttgarter Doppelaufführung für Dieter Falk, der die Musik zu diesem „Projekt der 1000 Stimmen“ schrieb - wobei es in Stuttgart an beiden Abenden zusammen mehr als doppelt so viele Stimmen von insgesamt 55 Chören aus ganz Baden-Württemberg waren. Der Pianist, Komponist und Pop-Professor, der heute in Düsseldorf lebt und lehrt, wohnte in den Achtzigerjahren zusammen mit seiner Familie in der Nähe von Stuttgart. Als Produzent arbeitete der mit mehr als 50 Gold- und Platinscheiben dekorierte Musiker unter anderem mit PUR, Paul Young und Patricia Kaas zusammen. Für das „Luther“-Libretto zeichnet mit Michael Kunze der erfolgreichste deutsche Musiktexter verantwortlich. Der Bühnenautor und Songwriter („Ich war noch niemals in New York“, „Griechischer Wein“) feiert seit Jahrzehnten vor allem als Musical-Autor weltweit Erfolge („Elisabeth“, „Tanz der Vampire“). Mit „Die 10 Gebote“ haben Falk und Kunze vor sieben Jahren schon einmal ein Riesenchorwerk über ein religiöses Thema höchst erfolgreich auf die Bühne gebracht.

Was das Erfolgsduo jetzt zum Reformationsjubiläum pop-oratorisch gewuppt hat, ist als halbszenische Variante des Musiktheaters wie als Chorereignis - im Wortsinn - schlicht großartig. Man hätte vermuten können, die bühnenästhetisch vergleichsweise schlanke Form des Oratoriums, bei der naturgemäß der Chor der „Star“ ist (auch bereits in den Werken Händels über biblische Einzelpersönlichkeiten), vermag nicht die dramatisch-emotionale Wucht eines „klassischen“ Musicals zu entfalten. Doch weit gefehlt.

Mega-Chor von 1200 Sängern

Imposanter Blickfang hinter der Bühne ist der Mega-Chor: eine weiße Halfpipe aus 1200 Sängerinnen und Sängern. Auch klanglich kann sich das Ergebnis der monatelangen Fleißarbeit der schwäbischen Luther-Chöre sehen lassen: durchhörbar, agogisch flexibel und auch als mitspielende Volksmasse beeindruckend, führt das von Matthias Hanke und Hans-Martin Sauter souverän geleitete Kollektiv durch dieses spannende Reformations-Drama. Der Sound der Rockband und eines Symphonieorchesters klingt astrein, die musikalischen Arrangements von Dieter Falk mischen die geistliche Musikform rockig auf.

Ein Mönch aus der strengen liturgischen Welt des Mittelalters goes Pop?! Klar doch. Der musikbegeisterte Luther schrieb an der Schwelle zur Neuzeit Melodien für Millionen: Hymnen für die Massen statt lateinischer Hochkultur. Luther: ein früher Popstar, wenn man so will. Falks Musikkino liefert die passenden Bilder - ein buntes Klangspektakel mit Beat-, Rock- und Discorhythmen, Jazz, Gospel und nicht zuletzt mit barocker Harmonik. In den stärksten Momenten zaubert Falk mit schwelgerisch symphonischem Gestus und Solo-Nummern mit Ohrwurmqualität Musical-Atmosphäre satt in die Halle. Und Falk hat Luther, dem Erbauungs-, Trost- und Protestliedermacher, von diesem geschriebene oder besonders geschätzte Weisen abgelauscht. Der Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ ist dem Oratorium ebenso einkomponiert wie „Christ ist erstanden“, das vermutlich älteste deutschsprachige Lied, das heute noch gesungen wird.

Packendes Befreiungsdrama

Das Luther-Oratorium spielt auf dem berühmten Wormser Reichstag von 1521, auf dem der junge Theologe seine als Ketzerei eingestuften kirchenkritischen Ansichten vor den weltlichen und geistlichen Autoritäten seiner Zeit widerrufen sollte; Luthers gestrenge Erziehung, seine Studienzeit und seine Entscheidung, Mönch zu werden, sind geschickt in Rückblenden gepackt.

Andreas Gergen (Inszenierung) und Doris Marlis (Choreographie) steuern zu Falks eingängigem Soundtrack einprägsame Bilder eines packenden Befreiungsdramas bei. Und das mit sparsamster Requisite: Ein paar Stühle, ein Absperrband genügen, wenn die Ankunft Luthers und der internationalen Zelebritäten auf dem Wormser Jahrmarkt der Eitelkeiten von den glänzenden Solisten in einer revueartig verdichteten Nummer mit operettenhafter Leichtigkeit als veritables Promischaulaufen präsentiert wird. Die Protagonisten dieses mondänen Showdowns kommen im modernen Look daher, Luther mit dunkler Cargohose und Kapuzenpulli, der schnöselige spanische König und Jung-Kaiser, der sich seinen eigenen - sehr aktuellen - Reim auf die europäische Krise macht („Die Deutschen dürfen zahlen“), mit weißen Klamotten, goldener Baseballmütze und Smartphone.

Brillant gezeichnet auch die swingenden Ablass- und Banker-Ballette, bei denen im Publikum Strafbefreiungsbriefe zum Scheinkauf angeboten werden und die Angestellten des Augsburger Großfinanziers Fugger auf cool machen und mit Sonnenbrillen und Geldkoffern in der Hand die Kommerzialisierung des kirchlichen Gnadenschatzes als moralische Großtat verteidigen.

Das Oratorium hat auch existenziellen Tiefgang und Momente voller Poesie zu bieten. Vor allem in den Auftritten des Titelprotagonisten und der Marketenderin Lara, einer von der Gesellschaft der Schönen und Reichen Ausgestoßenen, die Luther schon als Kind kannte. Frank Winkels beglaubigt singdarstellerisch die innere Zerrissenheit des jungen Mönches, seinen Kampf mit den Dämonen der Angst und der Verzweiflung mit beeindruckender Bühnenpräsenz. „Ich will selber denken - ich mit Gott allein“, heißt es im Schlüsselsong des Stücks. Weitere Titel mit Hit-Potenzial sind Laras Thema „Gott liebt dich, so wie Du bist“, wunderbar lyrisch intoniert von Sophie Berner, und „Wir alle sind Gottes Kinder“ im Mitsingfinale einer fulminanten Luther-Show nicht nur für Glaubensinsider. Sie verbindet intelligent gemachtes Infotainment mit kirchentagstauglichem Lobpreis. Ein Luther für alle - was will man mehr.