Rasanter Ausschnitt eines Tages in der „Heißen Ecke“: Kira Thomas, Sascha Diener, Ambrogio Vinella und Maxim Agné (von links) als klassische Reeperbahn-Figuren. Foto: Sabine Haymann Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Es ist die hanseatische „Linie 1“, dieses Hamburger Musical „Heiße Ecke“, das an einer Currywurstbude auf St. Pauli spielt. Statt Ur-Berliner Typen wie im Erfolgsstück des Berliner Grips-Theaters treffen wir hier die klassischen Reeperbahn-Figuren: grölende Saufköppe, Musicaltouristen, abgeklärte Nutten, peinliche Landeier auf Polterabend-Ausflug, die traurige Transe und den bärigen Schutzmann, den Hehler mit Weltschmerz und den Zuhälter aus Berufung. Neun Darsteller spielen im Theater der Altstadt über 50 verschiedene Rollen, in 24 kleinen, rasanten Ausschnitten verfolgen wir 24 Stunden ganz normalen Wahnsinn auf Hamburgs sündiger Meile.

Auf Reihe gebracht werden all die Herz-Ausschütter und In-sich-hinein-Schweiger von den taffen, um keinen Anpfiff verlegenen Servierdamen im Imbiss. Mit einer guten Beobachtungsgabe und sehr viel Hamburg-Nostalgie erheben sich Buch und Dialoge von Thomas Matschoß immer wieder über die Klischeefiguren und streuen empathische Kurzporträts verlorener Großstadtseelen darunter. Spannend wird der Abend dadurch, dass Matschoß viele kleine Handlungen ineinander verwebt.

Komponist Martin Lingnau (dessen neuestes Musical „Doctor Faustus’ Magical Circus Part II“ in der Esslinger Landesbühne läuft) und Texter Heiko Wohlgemuth haben handfeste, bissige Songs für die Hamburg-Revue geschrieben und schrecken dabei auch vor der Schlager-Schmerzgrenze nicht zurück. In Hamburg läuft das sympathische, aber nicht unbedingt jugendfreie Stück seit 2003 im Schmidt-Theater auf der Reeperbahn und zählte bereits mehr als zwei Millionen Besucher. Dass dieses Ur-Manifest Hamburgischen Rotlichtvergnügens nun ausgerechnet in Stuttgart gelandet ist, haben wir Intendantin Susanne Heydenreich vom Theater der Altstadt zu verdanken, die den Spaß detailverliebt und originell inszeniert hat. Da mag das Plattdütsch nicht sehr original klingen, dafür sorgt ein schwäbischer Tourist als Running Gag für den ganz speziellen Lokalkolorit - ob diese bissige Satire ein Hamburger Einfall war oder erst am Feuersee erfunden wurde?

Ein durchweg großartiges Ensemble springt im Sekundentakt in andere Rollen und wieder zurück, ändert nicht nur das Aussehen, sondern Dialekt, Tonfall oder Körperhaltung derart, dass man bei einigen Figuren drei Stunden lang nicht herausbekommt, wer sie nun darstellt. Maxim Agné, Anetta Dick, Sascha Diener, Bernadette Hug, Irfan Kars, Sorina Kiefer, Kira Thomas, Ambrogio Vinella und die Prinzipalin Heydenreich selbst verwandeln sich vom verzweifelten Zocker zum reihernden Säufer, von der Heulsuse zur harten Prostituierten, von der prosaischen Pommes-Bräterin zur feinen Dame, vom duldsamen Ehegatten zum seelenvollen Transvestiten und zum angeödeten Kleinbetrüger.

Kultiger Imbiss

Sibylle Schulze steckt sie alle in die passende, oft verräterische Kleidung, Siegfried Albrecht hat eine schön altmodische Theke gebaut und Sorina Kiefers flotte Choreografien werden richtig gut getanzt. Das einzige, was man der Inszenierung wünschen würde, wären manchmal bessere Perücken.

Dass die „Heiße Ecke“, die in Hamburg direkt neben dem Operettenhaus gespielt wird, nicht nur die Besucher dieses langjährigen Musicalpalastes veralbert, sondern auch deren Darsteller und die Mega-Erfolgsstücke wie „Cats“, das sorgt für Jubel im kleinen Theater der Altstadt - wo man ebenfalls gerne mal ein Musical spielt, weil es beim Publikum zieht. Die „Heiße Ecke“ gab es übrigens wirklich: Sie war ein kleiner, billiger, aber kultiger Imbiss an der Reeperbahn, der bis 1991 den Nachtschwärmern und harten Arbeitern des Rotlichtmilieus rund um die Uhr als Zuflucht diente, bevor sich Bauspekulanten das Grundstück unter den Nagel rissen. Ein schöneres Denkmal hätten sich die schlagfertigen Seelentrösterinnen mit der Ketchup-Flasche kaum wünschen können.

Weitere Aufführungen: 14. bis 18., 20. bis 23. und 28. bis 31. Dezember.

www.theater-der-altstadt.de