Immer gut für eine Pointe: der ehemalige Stuttgarter Schauspieldirektor Claus Peymann (2. von links.) mit Moderator Jörg Armbruster (links) sowie Petra Bewer, Harald Welzer und Gari Pavkovic. Foto: Björn Klein Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Wie verteidigt man die offene Gesellschaft, deren Vorzüge wir alle genießen? Ist es eine Offenheit mit Obergrenze? Warum überlassen wir die Themensetzung so stark dem rechten Rand? Gibt es einen schleichenden Rassismus unter uns Gutmenschen? Unaufgeregt aber leidenschaftlich, mit kräftigen Vorwürfen und bitterer Ratlosigkeit wurde gestern im Staatstheater über unser Modell des Zusammenlebens diskutiert, das einer immer stärkeren Bedrohung ausgesetzt ist.

In Zusammenarbeit mit der Initiative „Die offene Gesellschaft“, die deutschlandweit solche Gesprächsrunden initiiert, hatte das Schauspiel zu einem Gespräch geladen, in dem weniger die Experten gefragt waren als vielmehr die „Stuttgarter Citoyens“, wie sie der im Schauspielhaus stets willkommene Claus Peymann mit leicht ironischer Zuneigung nannte. Zum ersten Mal nimmt die Demokratie weltweit wieder ab, sagte der Soziologe Harald Welzer, Mitbegründer der Initiative: Wie verteidigen wir das, was bisher so selbstverständlich schien? Die Runde auf dem Podium gab kurze Keynotes ab, wie es so schön neudeutsch heißt, dann war der zahlreich anwesende Bürger gefragt. Moderator Jörg Armbruster, bekannt als Nahost-Experte der ARD, stellte immer wieder direkte Fragen ans Volk, fasste ausufernde Argumente zusammen und lenkte freundlich zurück zum Thema - erstaunlich, wie viele Menschen doch in so einem Forum auf ihre eigenen Projekte aufmerksam machen müssen.

In der Flüchtlingshilfe engagiert

Viele der 20 Mitbürger, die sich zu Wort meldeten, sind in der Flüchtlingshilfe oder anderen Integrationsprojekten engagiert - kein Wunder, gilt Stuttgart doch als eine der Vorzeigestädte für gelungene Integration. Gari Pavkovic, der Leiter der betreffenden Abteilung bei der Stadt, begründete es damit, weil „sich hier nicht nur die dafür zuständigen Gremien einsetzen, sondern viele Menschen“. Prompt kam die Frage aus dem Publikum, ob es nicht einfach an der guten wirtschaftlichen Situation der Stadt liege. Ein besonnen formulierender Taxifahrer hielt schon das Wort „Integration“ für rassistisch, weil es die Lebensart der Fremden nicht respektiere - warum definieren wir die offene Gesellschaft immer von der Mehrheit aus, fragte er.

„Demokratie ist unbequem“, sagte Petra Bewer, eine der Sachkundigen Bürgerinnen im Kulturausschuss der Stadt. Sie verneinte die Frage nach einer Leitkultur mit Worten des Schriftsteller Navid Kermani: „Vor dem Grundgesetz sind alle gleich, in einer Leitkultur nicht“. Stattdessen müsse eine neue Streitkultur her, die vor allem den Regeln des Respekts gehorche. Bewer regte im Rahmen einer vermehrten Bildung auch die Verbesserung der Sprachkultur von Schülern an - eine ungewöhnliche Forderung, die Claus Peymann mit seiner brillanter Rhetorik umgehend belegte, als er seine Keynote in den Saal hinein donnerte: „Auf wessen Kosten führen wir dieses Experiment? Die sogenannte offene Gesellschaft ist eine Errungenschaft, die wir von anderen finanzieren lassen! Dieses Paradies ist umzingelt von einer Welt in Hunger und in Flammen!“, sagte der Theatermann hochdramatisch und absolut zutreffend.

Bei der Frage nach dem Sozialen, bei der Kluft zwischen Arm und Reich landete die Diskussion immer wieder: „Gewisse Personen aus den Dax-Unternehmensvorständen nehmen die Orientierung aufs Gemeinwohl auch nicht zur Kenntnis“, ätzte Harald Welzer. Aber wer will sie dazu zwingen? „Die offene Gesellschaft ist keine perfekte Gesellschaft, aber sie ist aus sich heraus modernisierungsfähig“, so die hoffnungsvolle These des Soziologen.

Positive Utopie gefragt

„Wird den Menschen die Welt zu kompliziert? Bietet die AfD ihnen einfache Utopien an? Wie müsste die positive Utopie aussehen, die wir im Vergleich dazu anbieten?“, kam dann die Frage aus dem Publikum. Der Chef des Berliner Ensembles führte „die Schizophrenie des Theaters“ an, das zwar vor den immer gleichen Zuschauern spiele, in Stücken wie „Nathan der Weise“ allerdings die Utopie eines besseren Zusammenlebens bewahre.

Prosaischer formulierte es die Stuttgarter Choreografin Nina Kurzeja, als sie aus dem Publikum dazu aufrief, trotz allem in einem kleinen Rahmen mutig weiterzumachen: „Wir werden all die kleinen Sandkörner brauchen!“ Die deutlich im Raum stehende Verunsicherung dürfte das Gespräch nicht ausgeräumt haben. Aber es war einfach wichtig, sich gegenseitig den Rücken zu stärken für die mühsame, tapfere, unendlich wertvolle Basisarbeit.