John Neumeier, Choreograph und Intendant des Hamburg Balletts, bei der Preisverleihung. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Sein Name kommt einem nicht unbedingt als erster in den Sinn, wenn es um die Lehre des Psychoanalytikers und Philosophen Erich Fromm geht: Der Hamburger Choreograf und Ballettintendant John Neumeier bekam am Samstag in Stuttgart den mit 10 000 Eurodotierten Erich-Fromm-Preis verliehen. Nach Preisträgern wie Christine und Rupert Neudeck oder Noam Chomsky würdigt die Auszeichnung auch Neumeiers Kunst, das von vielen immer noch als reine Ästhetik oder gar Unterhaltung belächelte Ballett.

Bei der Zeremonie im frisch renovierten Hospitalhof wurde Neumeier für genau das geehrt, was ihn von so vielen Choreografen unterscheidet, ihn heute fast einzigartig macht: sein Erzählen. Seine Sprache ist der Tanz, aber sein Inhalt ist immer der Mensch - nicht die schöne Linie, die improvisierte oder dekonstruierte Bewegung. In seinen unzähligen Literaturballetten und selbst in den symphonischen Werken arbeitet Neumeier wie ein Romancier oder Philosoph; das ist etwas, was ein George Balanchine nie konnte, was Bewegungsfinder wie William Forsythe nie im Sinn hatten. „Seine Helden sind immer Suchende nach dem eigenen Ich, nach Wahrheit, Aufrichtigkeit, Solidarität, Menschenwürde“, begründete stellvertretend für den Vorstand der Fromm-Gesellschaft der Fromm-Biograf Jürgen Hardeck die Verleihung. Es gäbe kaum einen Choreografen, „in dessen Oeuvre sich die Auseinandersetzung mit dem Humanum, mit dem menschlichen Sein, dem Geworfensein in gesellschaftliche Kontexte so intensiv widerspiegelt wie im Werk von John Neumeier“.

Außer für seine weit über 100 Choreografien wurde der Hamburger Ehrenbürger auch für sein pädagogische Wirken geehrt, für die Weitergabe seines Künstlerethos und den Aufbau eines wahren Ballettimperiums in Hamburg, das mit Schule, Jugendkompanie und riesiger balletthistorischer Sammlung weit hinaus wirkt. Laudator Johannes Bultmann, der künstlerische Gesamtleiter der verschmolzenen SWR-Orchester, stellte die „Matthäuspassion“ ins Zentrum von Neumeiers Oeuvre und hob die Länge des 43-jährigen Engagements in Hamburg hervor, mit der der Ballettintendant selbst Herbert von Karajans lebenslange Anstellung in Berlin übertroffen habe. Leider hatte der Lobredner das kürzliche Alters-Outing des Choreografen nicht mitbekommen (Neumeier ist in Wirklichkeit 78, also drei Jahre älter, als es in sämtlichen Lexika steht) und reihte eine falsche Zahl an die andere.

Der deutlich jünger aussehende Preisträger berichtete in seiner langen Dankesrede, wie ihn Erich Fromms „Die Kunst des Liebens“ seit der High School begleitet habe. Neumeier hielt gewissermaßen eine Rede auf sich selbst, erklärte von innen heraus sein Arbeitsethos und seine Lebensphilosophie. Mit sanfter Ironie berichtete er von seinen diversen Berufswünschen als Heranwachsender: Zunächst hatte ihn das Priesteramt fasziniert, „aber mehr das Theatralische daran“. Dann wollte er Maler werden, später Psychiater. All diese Wünsche vereine nun der Beruf Choreograf, denn ganz im Sinne von Fromm überwinde das Betrachten von Tanz das Getrenntsein der Menschen. Man konnte sogar etwas über das spezifische Funktionieren eines Neumeiers-Ballett lernen: „Tanz teilt sich nicht rational mit, es ist unmöglich, ein Ballett zu ‚verstehen‘“, sagte Neumeier. Beim Betrachten von Tanz sei es „eben nicht der literarische Bezug, der unsere Wahrnehmung maßgeblich bestimmt, sondern der unmittelbare Gefühlseindruck, den der Tänzer zeigt, sein emotionales Engagement.“ Das Preisgeld von 10 000 Euro reichte der Choreograf umgehend weiter an die Tänzer seines Bundesjugendballetts, die auf das winzige Podium ein etwas kitschig geratenes Eigenprodukt und Neumeiers „Simple Gifts“ hinzauberten.