Flippiger Jazz: Jamie Cullum springt vom Flügel. Foto: Reiner Pfisterer Quelle: Unbekannt

Von Ingo Weiß

Stuttgart - Jamie Cullum genießt es, dass die Leute nicht wissen, in welche Schublade sie ihn stecken sollen. Ist er nun der „Robbie Williams des Jazz“ oder der „Charlie Parker des Pop“? Er habe die Seele und das Herz eines Jazzmusikers, sagt Jamie, der sich von Musikern wie Miles Davis, Wynton Marsalis, Thelonius Monk und Herbie Hancock inspirieren ließ. Aber er sei auch einer, der Popmusik mache, ohne sich dafür zu entschuldigen. Und: Er hat Rock’n’Roll im Blut.

Pop, Rock, Funk, Soul, Jazz, Swing, Boogie Woogie und HipHop - der Überflieger überschreitet alle stilistischen Grenzen. Und das ist das Erfolgsrezept des Briten aus Romford in der Grafschaft Essex. Der Balanceakt gelingt ihm formidabel - viele Menschen lieben seinen Stilmix mittlerweile heiß und innig - naja, abgesehen von Jazz-Puristen, die Cullums Musik am liebsten verbieten würden.

Als wolle er die Gegenpole versöhnen, eröffnet das Multitalent sein drittes Jazzopen-Gastspiel in Folge mit dem Cole-Porter-Evergreen „I get a kick out of you“, allerdings in einer minimalistischen Version, nur von Kontrabass und Schlagzeug begleitet. Auch „Get your Way“ und das Burton Lane-Cover „Old devil Moon“ kommen ungemein jazzig daher, wenn auch weniger wild-exaltiert als in vergangenen Jahren, dafür umso faszinierender und intensiver, wie die erste, herzzerreißende Pop-Ballade „Save your Soul“.

Verspielt und unberechenbar

Fortan verschmilzt der Singer und Songwriter im Verlaufe seines mehr als zweistündigen Konzerts nahtlos Musikstile, serviert den 6000 Fans auf dem Stuttgarter Schlossplatz mit einer verspielten Leichtigkeit und Unberechenbarkeit famose Kostbarkeiten, vermengt mit hörenswerten Stegreif-Improvisationen. Alles ist bei ihm im Fluss, die Übergänge sind brillant fließend. Er macht Jazz irgendwie unkompliziert, ansprechend insbesondere für die jüngere Generation. Zu viel Billigkultur mache dämlich, sagt er, zu viel Hochkultur mache einen zum Langweiler. Und ein Langweiler ist Cullum, dessen Crossover-Stil erst live richtig wirkt, keine Sekunde.

In weißen Turnschuhen mit blauen Sternen, schwarzen Jeans, schwarzem T-Shirt und zerzaustem, dunklem Haar stürmt der jungenhaft wirkende 36-Jährige die Bühne. Gerade mal 164 Zentimeter groß, optisch ein Michael J. Fox-Verschnitt. Seiner charismatischen Präsenz kann sich niemand entziehen. Da wird gespielt, gesungen und gesprungen, da wird gescattet und getrommelt, er gibt die Beat-Box und den strahlenden Sunnyboy mit Hummeln im Hintern, dessen gute Laune ansteckend ist. So flippig war Jazz noch nie. So poppig war Jazz noch nie. Alles ist erlaubt, als wandele Cullum zwischen Jugend und Erwachsensein. Das geht so weit, dass er bei einer seiner markanten Eigenkompositionen, dem unwiderstehlichen Meisterstück „When I get famous“, seinen Konzertflügel, der schon mal als Perkussionselement herhalten muss, besteigt und herunter springt. Cullum lebt eben seine Musik.

Doch nicht allein mit seiner breitgefächerten Performance wickelt der quirlige Springteufel die Fans locker um den Finger. Zuvorderst reüssiert er musikalisch. Seine angejazzte Lesart von Mike Posners aktuellem Ambient-Techno-Hit „I took a pill in Ibiza“ ist grandios und weitaus eindringlicher als das Original. Aus dem Narren, der eine psychoaktive Pille schluckt, um cool zu sein, wird ein Held, der sich am Ende an die „sad songs“ hält - weil sie nachhaltiger sind.

Narren schimpft Cullum auch seine Landsleute und entschuldigt sich mit „These are the days“ für den Brexit. Der Song ist zwar schon 15 Jahre alt, der Text von seinem Bruder Ben geschrieben, aber die Worte sind aktueller denn je. Mit „Love for sale“ setzt er einen fast düsteren Akzent obendrauf. Den Jazz-Song von Cole Porter aus dem Jahr 1930, der harmlos klingt, eigentlich aber das Lied einer Prostituierten ist, unterlegt er mit heavy Hip-Hop-Beats. Und „If I never sing another song“ widmet er dem verstorbenen Udo Jürgens.

Innige Momente

In solchen Stücken, wo sein sonst so luftig-lockeres Klavierspiel einem lyrischen Tastenstreicheln weicht, hat der Auftritt seine innigsten Momente. Stimmlich zeigt sich Cullum sowieso in Bestform. In vielen Gesangslinien erinnert er an den jungen Billy Joel, aber auch Frank Sinatra und Michael Bublé finden sich wieder. Der Boogie Woogie „I feel fine“ klingt im Gegensatz dazu wie 50er-Jahre-Rock’n’Roll im Stil von Jerry Lee Lewis. Eigentlich bedarf es dank Cullums eigener Hitdichte keiner Coverversionen. Und doch gibt er die juvenile Retromaschine, die fremde Songs wie den wunderbar groovenden Ray-Charles-Klassiker „Don’t you know“ singt. Am Bühnenrand aufgestellt, spielt Cullum mit seiner vierköpfigen, fulminanten Band anderseits Mark Ronsons Megahit „Uptown Funk“ rein akustisch. Das Publikum tanzt und klatscht und singt und hüpft. Cullums überragende Interpretation von Rihannas Hit „Please don’t stop the music“ gerät zur leidenschaftlichen Hymne an die Musik.

Die Jazzopen enden mit einem Finale furioso. Cullum, Sohn einer Birmanerin und eines Israeli, singt dem Publikum aus der Seele. Er ist einer der vielseitigsten und faszinierendsten Künstler dieser Tage. Und der perfekte Entertainer. Pop? Jazz? Völlig egal. Cullum macht Musik, von der er denkt, dass sie sich gut anfühlt. Und das tut sie.

Neuer Besucherrekord

Mit Jamie Cullum gingen die 23. Stuttgarter Jazzopen zu Ende. Die Veranstaltergesellschaft Opus meldet insgesamt 36 000 Besucher - einen neuen Rekord - und eine Platzauslastung von 97 Prozent.