Festivalleiterin Gudrun Hähnel vom Treffpunkt Rotebühlplatz und der künstlerische Leiter Marcelo Santos. Foto: oh Quelle: Unbekannt

Von Harry Schmidt

Stuttgart -„Herzlich Willkommen bei Pearly Gates“, heißt es zum Empfang am konspirativen Treffpunkt vor dem Aufzug im Gerber. Gegen einen Personalausweis oder Führerschein händigen einem die wie Flugbegleiter uniformierten Hostessen einen transparenten Kulturbeutel mit Audioguide, Kopfhörern und einem Umhänge-Pass im Scheckkartenformat aus. Der QR-Code darauf führt zu einem Werbeclip, der an die Wand geworfen wird, die Tonspur kommt vom Audioguide: Pearly Gates sei der „Garant für maximal versicherheitlichte Wohnanlagen“, erfährt man zu soften Easy-Listening-Klängen. Willkommen zur neuesten Inszenierung des freien Theaters Lockstoff, dessen Konzept darin besteht, im öffentlichen Raum Stücke zu spielen, bei denen sich Inhalte und Orte etwas zu sagen haben.

Für „Im Ausnahmezustand / Der selbstsüchtige Riese“ haben die Regisseure Bianca Künzel und Wilhelm Schneck im Einkaufszentrum Das Gerber ein besonders geeignetes Objekt gefunden: Denn die Fiktion von der „Gated Community“, der Sicherheitswohnanlage, ist dort längst Wirklichkeit geworden. Tatsächlich befindet sich auf dem Dach des Konsumkomplexes eine derartige abgeschottete Siedlung, deren Pforten sich erst nach einer Sicherheitskontrolle mittels Identitätsausweis öffnen. Aus diesem Grund bleibt auch die Einladung, die „Wohnanlage der Pearly Gates Corporation im Herzen Stuttgarts zu erleben“, für die rund 80 Besucher unter den Headsets Fiktion. Stattdessen werden für die rund 80 Minuten zwei Etagen im Gerber selbst zur Spielfläche.

Raffiniert nutzt die Inszenierung die räumlichen Gegebenheiten: Als Rundgang durch die zwei Ebenen angelegt, entstehen im Verlauf des Stücks immer neue Konstellationen von Bühnen- und Zuschauerraum. Am Geländer der großen Lichtaugen, die beide Etagen verbinden, verfolgt man, während sich ein Flaschensammler durch die Besucherschar drängt, wie das Paar im Geschoss darunter den Vorbeieilenden zuwinkt und Luftballons verteilt, während sie ihm Sätze zuraunt wie „Du bist nicht du“ oder „Du küsst anders“.

Viererbande ausrangierter Stofftiere

Glänzend, wie Kathrin Hildebrand der Entfremdung Ausdruck verleiht, ambivalent zwischen besorgt und distanziert laviert. „Du musst nicht mit mir schlafen“, beginnt sie einen Monolog, um mit „Besorg’s dir einfach irgendwo anders“ zu enden. Spannend die Reaktionen der Passanten: Manche bleiben stehen, manche laufen kopfschüttelnd vorüber, als der Mann (präsent, ohne mutwillig zu wirken: Natanael Lienhard) ihr eine Szene macht, laut durch die Shoppingmall schreiend. Undurchsichtig wie ihre Gefühllage ist auch die Funktion der beiden in Falk Richters Stück: Zwar gehören sie zu den „Auserwählten“, andererseits sind sie aber auch Agenten, Subjekte, Untertanen der übergeordneten Instanz Pearly Gates.

Die um sich greifende Paranoia hat ihren Grund: Sie sichte die Überwachungsvideos, heißt es an einer Stelle, das Tor muss geschlossen bleiben, an einer anderen. Zwischen dem Paar im grauen Casual-Business-Partner-Look steht ihre Tochter (Charlotte Ruoff), in schwarzer Jeans mit Knieschlitz, Hoodie und Beanie ein Spiegelbild ihrer Altersgenossen in der Mall. Surreale Momente befördern die beklemmende Atmosphäre: Immer wieder taucht eine Viererbande derangierter Stofftiere im Blickfeld auf, bildet eine Gruppe großer und kleiner Dummys Formationen oder bewegt sich als Schreitprozession durch die Menge der Kunden und Flaneure (Kostüme: Jessica Rank).

Zwischen diese Spielszenen geschnitten bilden Fragmente von Oscar Wildes „Der selbstsüchtige Riese“ als gelesene Tonspur eine retardierende Kontrastfolie: Während das Märchen als Geschichte einer Läuterung eine dezidiert ethische Botschaft als erfüllte Utopie formuliert und in der Inszenierung das Schlusswort erhält, bleibt das Ende des Handlungsfadens im anderen Teil zuvor offen. Besonders die Rolltreppenszenen sind in ihrer eindringlichen Bildhaftigkeit gelungen: Sie fährt mit Blick zurück nach oben, während sie sich entfernend auf ihn einredet: „Sie sagen, deine Leistung ist gesunken“. Im Nebeneinander von Miniröcken, Jogginghosen, Verschleierungen vor den Lingerie-Boutiquen, Fastfood-Läden und Drogeriemärkten, den Teenagergruppen und einkaufenden Familien wirkt die Korrespondenz zwischen Stückinhalt und Ort ausgesprochen instruktiv.

Weitere Termine: 9. und 10. Dezember 2016 und ab Februar 2017. Beginn 19:30 Uhr im Gerber vor den Aufzügen auf der Ebene E1.