Matti Krause (Mitte) als Hans Beumann läuft und läuft und läuft auf der Bühne. Das Stück „Ehen in Philippsburg“ nach einem Roman von Martin Walser wurde am Samstag vom Ensemble des Schauspiel Stuttgart uraufgeführt. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Verena Großkreutz

Stuttgart - Matti Krause läuft und läuft und läuft. Stoisch, gleichmäßigen Schrittes. Immer auf dem Laufband und mitten auf der Bühne, einem quadratischem Tanzsaal im Fünfziger-Jahre-Design, der sich immer wieder rasant um sich selbst dreht, auch manchmal von stürmischen Wetterverhältnissen durchpustet wird, die die weißen Vorhänge zausen, die ihn umschließen. Krause ist Hans Beumann, einer der vier Protagonisten in Martin Walsers erstem, 1957 erschienenem, sozialkritisch versiertem Roman „Ehen in Philippsburg“, der jetzt - erstmals für die Bühne bearbeitet - im Stuttgarter Schauspiel Premiere hatte. Nervöse, dennoch gut getaktete Bewegung hat Regisseur Stephan Kimmig der geistigen Starre und Enge der von Walser beschriebenen Nachkriegsgesellschaft und Wirtschaftswunderwelt gegenübergestellt. Denn während Matti Krause läuft und läuft, auf der Stelle zwar, aber doch durch ganz Philippsburg und seine Upperclass-Cocktailpartys, Chefredakteursvorzimmer und Fabrikantenwohnzimmer (Bühne: Katja Haß), formiert sich das Ensemble um ihn herum immer wieder zu zappeligem, dennoch klar choreographiertem Getanze, das oft genug sexuelle Ambitionen verrät.

Beumann, mittellos aus der Provinz kommend, will als Journalist in Philippsburg Fuß fassen, sucht den Zugang zur Highsociety über seine ehemalige Studienkollegin, die Fabrikantentochter Anne, die ihrer Rolle so gar nicht entsprechen will, in ihrem Rosa-Strickpulli-Outfit und ihrem linkischen Gehabe (Kostüme: Anja Rabes). Eine Gesellschaft tut sich auf, die moralisch verkommen und verlogen ist, hemmungslos, gewinnsüchtig, egoistisch, kaltherzig und gewissenlos. Selbstredend ist hier kein Platz für die Auseinandersetzung mit deutscher Vergangenheit. Eine Atmosphäre, in der die Liebe längst stiften gegangen ist. Die Ehen sind zerrüttet: Das Sagen haben karrieregeile Männer wie der Gynäkologe Alf Benrath oder der Rechtsanwalt Alexander Alwin, die ihre Gattinnen nach Strich und Faden betrügen und ihre heimlichen Geliebten ausbeuten. Die Ehefrauen dienen hier vor allem als adrette Kleiderständer für hippen Schick.

Der Trick mit dem Laufband funktioniert zunächst: Ehe Beumann selbst von den moralisch verkommenen Verhältnissen aufgesogen wird, sprich: selbst zum Arschloch wird, darf er ganz plakativ Distanz demonstrieren, laufend und schlecht gelaunt sich echauffieren übers Drumherum und über die Atmosphäre in der Stadt. Matti Krause macht das vorzüglich: brillant rhythmisiert und geschmeidig belebt ist sein Redeschwall.

Walser hätte einst gar nicht erklären müssen, dass Philippsburg Stuttgart ist. Wer hier wohnt, weiß, welche Stadt gemeint ist, wenn sich Beumann über die dicke Luft im Kessel, über pralle Verkehrsadern und sommerliche Hitzewellen aufregt, die das Leben unerträglich machen. Gespräche führt Kraus en passant, sofern es überhaupt etwas zu sagen gibt, das über hohles Partygeplauder hinausgeht, selbst der erste Sex mit Anne wird auf dem Laufband angedeutet.

Es gibt starke Momente in dieser Inszenierung: etwa wenn Anne, von Beumann zum Schwangerschaftsabbruch getrieben, ihr grauenhaftes Abtreibungs-Martyrium beschreibt. Sandra Gerling, eine enorm wandlungsfähige und präzise Schauspielerin, spielt das ungeheuer authentisch. Geradezu magisch auch die Szene, in der der Suizid der Gynäkologen-Gattin angedeutet wird: Der zuvor sich im Monolog selbstgerecht, eitel, chauvinistisch über sein Frau auslassende Alf Benrath - gespielt vom Stuttgarter Tatort-Kommissar Felix Klare - trifft im dämmrigen, zugig durchwehten Tanzsaal auf seine Frau, nähert sich ihr in reptilienartiger Langsamkeit, während diese, in ebensolcher Zeitlupe, merkwürdige, yogaähnliche Körperverrenkungen durchführt.

Der Haken des Abends ist dann ein bekannter - in unseren Zeiten der Theaterromanisierungswut. Der Effekt des Laufbandes - sehr praktisch, um Walsers kalt sprudelnden Bewusstseinsstrom bühnengerecht zu extrahieren und möglichst viel davon in die Monologform zu pressen - nutzt sich zu schnell ab. Er prägt aber gefühlte zwei Drittel des dreieinhalbstündigen Abends. Wegen notwendiger Kürzungen werden wichtige Figuren eliminiert oder auf ein Minimum eingeschmolzen - wie jene des erfolglosen Schriftstellers Berthold Klaff - oder sie dienen - wie der mächtige Chefredakteur Harry Büsgen - nur noch der Dekoration. Stärkere Beleuchtung ist den Herren Benrath und Alwin (Paul Grill) zwar gegönnt. Aber weil die beiden stets aus ähnlicher Motivation heraus handeln, führt das auf der Bühne, die nach Kontrasten schreit, irgendwann zur Langeweile. Bleibt die Frage, warum man diesen Roman überhaupt fürs Theater bearbeiten musste: Weil Walser demnächst 90 wird? Weil der Roman in Stuttgart spielt? Das ist deutlich zu wenig.