Von Petra Bail

Stuttgart - Für Friedrich Schiller war die Schaubühne eine moralische Anstalt, um die Urteilskraft zu schärfen und Sinn für Gerechtigkeit und Mitgefühl sowie mehr Toleranz zu erwerben. Boris Burgstaller und Gabriele Hintermaier symbolisieren die „stehende Schaubühne“ am Bühnenrand als pseudohistorische, weiß-grau geschminkt und gekleidete Figuren, wie man sie als Akteure in Fußgängerzonen trifft. Man wundert sich über diesen laienhaften Charme, aber nur so lange, wie der Fokus auf den beiden klassischen Projektionsflächen für Luise und Ferdinand, die beiden unglückselig Liebenden in Friedrich Schillers Trauerspiel „Kabale und Liebe“, liegt. Also kurz. Die folgenden zwei spannenden Stunden füllt das leidenschaftliche, aber ergebnislose Aufeinanderprallen der bürgerlichen Musiker-Tochter und des reichen Präsidenten-Sohns. Wolfgang Michalek hat für die Spielstätte Nord des Stuttgarter Schauspiels mit einer großartigen Besetzung und scharf gezeichneten Charakteren eine sehenswerte, weil gegenwartskompatibel und gut gestraffte Inszenierung geschaffen, in der das Schiller’sche Pathos nicht zu kurz kommt und der Humor auch nicht. Man darf immer mal wieder befreit lachen.

Sportliche Höchstleistungen

23 Jahre alt war Schiller, als er „Kabale und Liebe“ schrieb, sein zweites Stück nach „Die Räuber“, in dem er gegen die Fürstenwillkür rebellierte, vor der er 1782 aus Württemberg fliehen musste. Diesem gesellschaftspolitischen Aspekt trägt Regisseur Michalek ebenso Rechnung wie den Mechanismen der Macht, wenn er den Mythos Liebe als sportliche Höchstleistung zelebriert. Lea Ruckpaul verkeilt ihre Luise Miller in alles verschlingender Sehnsucht akrobatisch wie eine Artistin im Stuhl, klettert mühelos einen deckenhohen Vorhang hinauf. Sie bebt und tobt und ist außer sich. Im Gegensatz zu ihrem Objekt der Begierde ahnt sie den Stress, der auf sie zukommt. Die Liebe ist ein Ringkampf.

Christian Schneeweiß’ Ferdinand von Walter ist ein sorgloser Lebemensch in sexy Lederhosen und streichelweicher Samt-Joppe. Macht und Geld bedeuten ihm nichts, weil sie selbstverständlich sind. Sein Auftritt zu Princes „Purple Rain“ ist eine große Show auf öffentlichem Parkett und beeindruckt nicht nur Luise. Sie liebt den Kerl. Und, Hand aufs Herz, wer könnte so einem Beau widerstehen? In einer kräftezehrenden Ohnmachts-Performance fällt die zierliche Frau im kurzen Rock immer wieder, grandios die Augen verdrehend, vom Stuhl, auf den sie von Ferdinand wie ein Mehlsack zurückgeworfen wird - ein Spielball zwischen der Doppelmoral der Herrschenden und der kleinbürgerlichen ihres Vaters (Michael Stiller).

Leider ist die Liebe keine uneinnehmbare Bastion gegen die zerstörerischen Intrigen, die Ferdinands Vater anzettelt. Die Gefühlswallungen des Nachwuchses durchkreuzen seine ehrgeizigen Karrierepläne. Jürgen Lingmann nimmt man den narzisstischen, mit dicken Silberringen die eigene Bedeutung unterstreichenden Machtmenschen ab. Er duldet keinen Widerspruch und leistet sich eine handgreifliche Auseinandersetzung mit dem Sprössling, der sich der arrangierten Ehe mit Lady Milford widersetzt. Handlung tut Not. Für die Drecksarbeit ist der widerlich-intrigante Haussekretär Wurm zuständig, ein perfekter Diener seines Herrn. Sensationell Rahel Ohm in maskenhafter Emotionslosigkeit mit fettigem Spaghettihaar und Ärmelschoner - ein grauer Buchhalter der Kabale, der „das schönste Exemplar einer Blondine“, wie er Luise nennt, selbst begehrt, die vor Ekel an die Decke geht, mittels Bühnenvorhang als Seil.

Das Korsett des Rokokokleids, in das Luise in der Doppelrolle als Lady Milford schlüpft, ist eng. Zu eng für einen freien Geist wie sie und die abgelegte Kurtisane des Herzogs, die letztlich beide das gleiche Ziel haben: die einzige, bedingungslose Liebe. In galoppierendem Englisch wird die Karriere der Lady erzählt, einer Mittlerin zwischen Adel und Bürgertum. Und nun? Aus der Traum, die Welt durch Liebe zu verändern, starre Gesellschaftsstrukturen aufzubrechen. Keine Chance, obwohl sich auch hier Wolfgang Michaleks Figuren emanzipiert zeigen. Luise, innerlich gefestigt, begehrt auf: Sie ohrfeigt den Präsidenten für seine verbalen Kränkungen.

Laute und leise Szenen wechseln sich ab. Die Energie der drängenden Lovestory drückt sich im vehementen Körpereinsatz der Schauspieler aus. Im verlorenen Kampf gegen Intrigen, Egoismus und Kälte bleibt nur der gemeinsame Selbstmord. Das Schlussbild verdeutlicht die Kraft des Textes, wenn Luise und Ferdinand, vom Gift geschwächt, einander am Boden entgegenrobben, der finalen Vereinigung aber der blöde Sprudelkasten mit den Giftflaschen im Weg steht. Manches Ende ist einfach banal.

Weitere Vorstellung am 23. November. Kartentelefon Tel. 20 20 90.