Von Dietholf Zerweck

Stuttgart - Als „kontrapunktisches Meisterstück“ hat Anton Bruckner seine 5. Sinfonie bezeichnet. In seiner Antrittsvorlesung als Lektor für Harmonielehre und Kontrapunkt an der Wiener Universität forderte er 1875 - als er schon mit der Arbeit an diesem Werk begonnen hatte - eine „musikalische Architektur, die ihren ganzen Kunstbau bis in die Atome seziert.“ Für sein Saisoneröffnungskonzert gewann das Staatsorchester Stuttgart den 77-jährigen Marek Janowski als Dirigent: ein Glücksfall, denn der Maestro, von dem mit dem Orchestre de la Suisse Romande 2010 eine viel beachtete Gesamteinspielung aller Bruckner-Sinfonien veröffentlicht wurde, ist für dieses 75-minütige Werk ein idealer Interpret.

Ein mutiger Akt auch, die Sinfonie allein aufs Programm zu setzen. Schwer vorstellbar, dass Dirigent und Musiker daneben auch anderen Musikstücken die gleiche unbedingte Hingabe und Konzentration widmen könnten - doch oft verlangt die Konvention danach, meist mit zweifelhaftem Ergebnis. Hier war im Beethovensaal der Liederhalle von den ersten fast unhörbaren Pizzikati der Celli und Bässe, von den polyphonen Verschlingungen der Bratschen und Geigen, dem plötzlich einsetzenden Bläserchoral und den auffahrenden Tutti des Orchesters in der Adagio-Introduktion eine ungeheure Energie zu spüren, die sich im ersten Crescendo des Allegro triumphal entlud. Die Proportionen dieses Kopfsatzes, die klanglichen und dynamischen Kontraste wurden mit höchster Klarheit und Präzision entfaltet.

Kunst des Rubato und der Zäsuren

Marek Janowski - das Riesenwerk ohne Notenpult im Kopf - setzt nicht wie viele heutige Dirigenten bei Bruckner auf Überwältigung durch Klangmasse und grelle Gegensätze. In seiner Biografie „Atmen mit dem Orchester“ erklärt er, wie wichtig beim Aufbau großer Steigerungen die kleinen organischen Tempoänderungen im musikalischen Fluss der Entwicklung seien, damit die einzelnen Teile nicht auseinander fallen, Entsprechendes gelte auch für die Generalpausen. Diese Kunst des Rubato und der Zäsuren praktiziert Janowski mit dem Staatsorchester aufs Eindrucksvollste, hinzu kommt in seiner Wiedergabe ein ungeheurer Reichtum an Zwischenstimmen. Im zweiten Satz führt eine leichte Tempobeschleunigung der akkordischen Geigen nach der einsamen Oboen-Kantilene über den Streicher-Pizzikati zu Beginn mitten hinein ins unruhige Geschehen, im Scherzo entlädt sich die Spannung in tänzerischem Furor und wiederholten Wechseln von liedseligem Ländler zu burlesker Euphorie. Das Staatsorchester musiziert das höchst inspiriert, von Janowski mit kleinen Gesten zu großer Wirkung gefordert. Im Finale wird, nach einem von intensivster Klanglichkeit erfüllten Rückgriff auf den Beginn der Sinfonie, das mehrfache bizarre Fünfton-Motiv der Soloklarinette zum Kern einer phantastischen Fuge, genauso konturscharf artikuliert wie das vom Horn angestimmte Thema, welches durch alle Orchestergruppen wandert und sich dabei ständig harmonisch und rhythmisch transformiert. Auch dies ist hinreißend gestaltet: bis zum feierlichen Choral und der finalen Doppelfuge ist dieser Satz von Janowski ganz ohne Weihrauch, dafür in der Klarheit der Stimmen ihrer polyphonen Durchdringung, mit faszinierender Ausdruckstiefe musiziert.

Das Konzert wird heute Abend um 19.30 Uhr im Beethovensaal der Liederhalle wiederholt.