Von Thomas Krazeisen

Esslingen - Es ist etwas faul im Hause Federle. Gewaltig faul sogar. Die Bühnenuhr im Esslinger Schauspielhaus signalisiert an diesem Abend bereits fortgeschrittene Morgenstund‘. Die hat, wie die nächsten knapp 90 Minuten zeigen, nicht Gold im Mund, sondern die Schwärze eines großen Zeitlochs, nachdem der Herr des Hauses seinen Brummschädel aus den Kissen hervorgegraben hat. Er bemerkt nicht nur einen Filmriss, sondern auch, dass er die vergangene Nacht nicht alleine im Bett war. Nicht neben seiner Frau, und auch nicht neben einer abgeschleppten. Der ebenfalls stark verkaterte Co-Schnarcher ist, wie sich alsbald herausstellt, ein alter Schulkamerad, der nach dem abendlichen Klassentreffen mit ihm noch auf Sauftour war. Einer folgenreichen. Denn als die Hausherrin eine Zeitungsmeldung über den nächtlichen Mord an einem Kohlenmädchen vorliest, den zwei Männer im Vollsuff begangen haben sollen, dämmert es den übernächtigten Zechkumpanen, dass sie etwas mit dieser mysteriösen Geschichte zu tun haben könnten.

Imaginierter Blutrausch

Die Indizien jedenfalls - ein grüner Regenschirm mit einem Affenkopf und ein Taschentuch mit verräterischen Initialen - scheinen die beiden schwer zu belasten. So sehr, dass sie sich nicht nur für die mutmaßlichen Mörder halten, sondern am Ende einer aberwitzigen Beweis- und Zeugenbeseitigungstour gegenseitig an den Kragen wollen und beinahe zu echten Verbrechern werden. Denn das Ganze ist, wie sich schließlich herausstellt, lediglich ein imaginierter Blutrausch, ausgelöst durch die Polizeimeldung aus einer völlig veralteten Zeitungsausgabe, welche die Gattin vorgelesen hatte.

Der französische Autor Eugène Labiche, der seine Komödien quasi am Fließband produzierte, hat in seiner 1857 uraufgeführten „Affäre Rue de Lourcine“ eine bitterböse Parabel auf die hinter der Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit lauernde Bosheit geschrieben. Ein Ereignis kann durch Emotionen und Einbildungskraft viel wirkmächtiger werden als die nüchterne Wirklichkeit belastbarer Fakten: In Fake-news-Zeiten entwickelt Labiches simpel konstruierte, inzwischen etwas schwergängige Verwechslungs- und Vertuschungsmaschinerie, die durch eine inaktuelle Nachricht in Gang gesetzt wird, fast schon wieder ungeahnte Energien.

Der Schauplatz der französischen Komödie ist Paris. Im Esslinger Schauspielhaus, wo eine schwäbische Adaption von Jörg Ehni jetzt in einer Inszenierung von Siegfried Bühr Premiere hatte, ist - schon am Titel unschwer zu erkennen - der Plot nach Stuttgart verlegt worden. „Fatal! Fatal! - Mord auf dem Schillerplatz“ heißt die Mundart-Groteske. Man will zum „Cuseng“ mit dem entliehenen „Parablieh“, der aber nicht mehr am vermuteten Ort im „Suttrai“ steht: Parliert wird, wie es sich für die neckarstädtische Hautevolee ziemt, in gepflegtem honoratiorenschwäbischem Idiom, das passenderweise genügend Entlehnungen gallischen Ursprungs bereithält. Die schwäbischen Hauptstädter können sich ein properes Heim mitten in Stuttgart und wie im französischen Original einen Butler (Tobias Strobel) leisten.

Katrin Busching hat auf der Esslinger Bühne einen großen Salon mit antikem Mobiliar geschaffen. Auf einer Wandkonsole des mit historisierenden und Art-déco-Elementen tapezierten Interieurs grasen ein gutes Dutzend Wasen-Hasen-Keramiken, zur Linken sind Einmachgläser zu sehen. Vermutlich sind darin nur harmlose Rüben konserviert - aus der Ferne wirken sie wie asservierte Organ-Teile aus der Gerichtsmedizin. Auch beim Anachronismus der die ganze Malaise auslösenden Zeitungsmeldung spielt der schwäbische Labiche-Interpret Ehni, der zuletzt an der WLB beim Freilichtspiel Shakespeares Hamlet an den württembergischen Hof holte, gewitzt mit Perspektiven: Das Stück spielt hier im Jahr 1890, die fatale Zeitungsnotiz stammt aus einer Ausgabe des Jahres 1857. Damals, also just im Uraufführungsjahr der Komödie, fand in Stuttgart tatsächlich das sogenannte Zwei-Kaiser-Treffen statt, bei dem der württembergische König Wilhelm I. nach dem Krimkrieg die beiden Kontrahenten Kaiser Napoleon III. und Zar Alexander II. in der Stuttgarter Residenz zu einem französisch-russischen Gipfel empfing.

Beim jüngsten WLB-Mundartgipfel reden sich die beiden alkohol- und schuldgeplagten Ex-Klassenkameraden, der wohlhabende Oskar Federle und der Chefkoch Jakob Gäbele, in schönster Häberle-und-Pfleiderer-Manier um Kopf und Kragen. Marcus Michalski und Oliver Moumouris verkörpern die beiden ungleichen Brüder im Geiste hochnotkomischer Spießigkeit comme il faut - zwei schwäbische Commedia-Clowns, die sich an Witz und komödiantischer Kunst bei ihren Pas de deux des mühsam unterdrückten Misstrauens absolut nichts schenken. Nina Mohr gibt passend den Hausdrachen Kathrine. Einen mit ebenfalls zwei Gesichtern, denn gegenüber dem Federle-Cousin Hägele (treffend vierschrötig verschlagen: Antonio Lallo), der seinerseits noch eine Rechnung auf Kosten des Hausherrn offen hat, zeigt sich die gestrenge Madame von einer ganz anderen, offenherzigen Seite.

Das alles ist fraglos vorzügliche regionale Theaterkost, à point serviert. In gewisser Weise ist die schwäbische Farce - frei nach Cuisinier Gäbele - fast schon zu glatt gemixt, so dass man die Bitterstoffe des französischen Originals - das im bürgerlichen Gewande schlummernde Potenzial abgrundtiefer Monstrosität - nicht mehr so gut herausschmeckt. Das ist dann aber auch schon das einzige Haar, das man in dieser schmackhaften Suppe finden kann.

Die nächsten Vorstellungen im Esslinger Schauspielhaus: morgen sowie am 4., 10. (15 Uhr), 16. und 31. Mai.