Wir machen Musik, und zwar kompromisslos: Dynamisch dirigiert Hans-Christoph Rademann die Gaechinger Cantorey. Foto: Holger Schneider Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Meint der das ernst? Scheinbar meint er es ganz lutherisch ernst, der werte Mr. George Frideric Händel. Da lässt er über zwei Stunden lang nach Lust und Laune den Sanguiniker lärmen und genießen, den Melancholiker zart empfinden und sinnieren, und dann predigt er dem einen wie dem anderen Maß- und gewissermaßen auch Maulhalten. Und damit die Predigt des Moderaten auch richtig sitzt, intoniert ein gestrenger Motettenchor ganz am Ende ein zusammengezimmertes Thema aus zwei Luther’schen Chorälen, die Händels Londoner Publikum anno 1740 wohl kaum identifizieren konnte. Was soll das also? Privates Bekenntnis oder vorausschauender Witz? Die gut- und spießbürgerlichen „Mäßigungsvereine“ des 19. Jahrhunderts mit ihrem staatstragenden Lutheranismus scheinen hier jene Vernunftmoral gepachtet zu haben, die Schluss macht mit dem exzessiven Temperamentsgelichter einer vergangenen Zeit, der Revue aus taghellem Jauchzen und nächtlicher Versenkung, die nicht nur dem Händel-Dirigenten Paul McCreesh „etwas crazy“ vorkam.

Fürwahr: „L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato“ ist Händels verrücktestes und auf jeden Fall durchtriebenstes Werk. Hinter dem italienischen Titel („Der Heitere, der Nachdenkliche und der Gemäßigte“) steckt ein englisches Oratorium, frei nach einer Vorlage des „Paradise lost“-Dichters John Milton, und das wiederum schert sich keinen Deut um Handlung oder diskursive Plausibilität. Die titelgebenden Allegorien sind keine Drei von der Zankstelle, die sich ihre Temperamente und Lebenseinstellungen um die Ohren hauen. Vielmehr frönen sie in einer träumerischen Sequenz wundersamer Genre- und Gemütsklangbilder ihren Leidenschaften, bis der Moderate den Höhen- und Tiefenregler auf Null stellt. Aber Händel - das ist das Durchtriebene - macht Musik dazu, die das Tanzbein schwingt, in sinnlichster Verschmelzung der Gesangslinien schwelgt, den altertümelnden und graubärtigen Schlusschor zum meisterlich ironischen Aperçu erklärt.

Wahrer Reichtum

Naturgemäß passt die vermeintliche Moral vom Maßhalten bestens als finaler protestantischer Fingerzeig zum „Reichtum“-Motto des diesjährigen Stuttgarter Musikfests. Daran gehalten haben sich Bachakademie-Chef Hans-Christoph Rademann und seine Gaechinger Cantorey nicht. Ihre Aufführung im Beethovensaal war maßlos reich wie Händels Partitur - und unmäßig gut. Das begann schon mit den - dirigentenlos gespielten - Concerti grossi vor dem ersten und zweiten Teil: von der exzellenten Konzertmeisterin Nadja Zwiener mit energetischen Impulsen gesteuert, dynamisch gespannt und zugleich erlesen in der Feinheit der Phrasierung, der sensiblen Inbrunst des Leisen. Im B-Dur-Orgelkonzert (op. 7, Nr. 1) hatte die Silbermann-Truhenorgel ihren großen Soloauftritt, in perlender Prägnanz gespielt von Michaela Hasselt (die zwei, drei Unsicherheiten: geschenkt). Vom Orchester wahrlich superb aufgefächert der überbordende Spielwitz der großen Chaconne, wie überhaupt solch gloriose Instrumentalkunst auf kongeniale Fühlung zu allen Facetten von Händels Musik geht, ob nun Ulrich Hübner beherzt ins Solohorn stößt oder Georges Barthel der Nachtigall die Traversflötentöne ablauscht. Gerade diese große Arie „Sweet bird“, eine Geburt der Musik aus dem Geist der Ornithologie, führt ins Zentrum von Händels Konzeption. Diese trillernde, zwitschernde Anverwandlung des Naturklangs radikalisiert die barocke Nachahmungsästhetik bis an die Grenze der Parodie und ist doch körperhafteste, ja erotischste Verschmelzung von Sinnlichkeit und Empfindung. Dass der Komponist dieses Kunstnaturstück der Penseroso-Sopranistin in die Kehle legt, weist auf sein Verständnis der Melancholie nicht als trauernde Askese, sondern als holde Ekstase: befreit zur Sensualität einer entgrenzten Musik, die nicht mehr Äußerung des Lebens, vielmehr das Leben selbst ist. Was unter umgekehrten, bisweilen munter-folkloristischen Klangvorzeichen ebenso für den Allegro-Frohsinn gilt. Musik - und nicht Mäßigung - ist das wahren Medium einer Berührung, ja Synthese der Gegensätze. Und weil Rademann, sein klangvoller ebenso wie locker-luzider Chor, seine Instrumentalisten und die großartigen Vokalsolisten kompromisslos beste Musik machen, treffen sie exakt die eigentliche Botschaft des Werks.

Wie die Sopranistin Gillian Webster in den Penseroso-Gesängen die verhaltene Glut, den sublimen Glanz der Intimität in leuchtende Empfindung steigert, wie sie die wirbelnden Koloraturen jongliert, das zeugt von höchster stimmlicher Kunst und wissender Gestaltung. Tenor James Gilchrist verfügt über bestens timbrierte und phrasierte Allegro-Töne, die Sopranistin Gerlinde Sämann lässt mit milder Leuchtkraft eine andere Nuance des sanguinischen Temperaments hören, eine Spur von Melancholie, eine Andeutung des Synthese-Gedankens. Der Bass Andreas Wolf komplettiert die Allegro-Dreifaltigkeit mit mächtig-rundem, trefflich fokussiertem Ton und stimmt dann, nicht minder jovial, die Moderato-Predigt an. Soll heißen: Hier gilt’s der Kunst als wahrer Moral. Und Dirigent Rademann ist ihr Prophet.

Bilanz des Musikfests

Die Bachakademie als Veranstalterin hat eine erste Bilanz der elf Musikfest-Tage gezogen: Rund 13 000 Besucher kamen zu den 43 Veranstaltungen, 71 Prozent der zur Verfügung stehenden Plätze waren besetzt. Zum Vergleich: 2015 haben 15 700 Hörerinnen und Hörer 44 Veranstaltungen besucht bei einer Platzauslastung von 72 Prozent. Sprechen die Zahlen zwar für keine gesteigerte, aber immerhin gleichbleibende Nachfrage auf respektablem Niveau, zeigt ein Blick auf die einzelnen Konzerte ein differenzierteres Bild. Die Konzerte in der Leitung von Akademie-Chef Hans-Christoph Rademann mit der neu formierten Gaechinger Cantorey waren ausverkauft oder zumindest sehr gut besucht. Das Publikum scheint dem eingeschlagenen Weg in die historische Aufführungspraxis mit Offenheit zu folgen: ein wichtiges Resultat für die Bachakademie. Dagegen lichteten sich die Reihen bei Auftritten selbst prominenter Gastkünstler. Reges Interesse besteht indes an Wort-Kontexten: Die Führungen in der Staatsgalerie und die Gesprächsrunde „Vom Umgang mit Reichtum“ waren ausgebucht, die „Klangateliers“, die den aufführungspraktischen Wandel erläuterten, fanden großen Zuspruch.