Ellena Trapp (links) und Stilianos Savvidis (rechts) inszenieren einen authentischen Rahmen für Gerhard Polaceks Lesung. Foto: Rudel Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier

Für viele ist das Herz das Symbol der Liebe schlechthin. Andere glauben, dass im Herzen die Seele eines Menschen wohnt. Manche sehen die Sache profaner und betrachten das Herz nur als ein unverzichtbares Organ. Und wieder andere meinen, das Herz sei der am meisten geliebte, geschundene, betrogene und beanspruchte Muskel im Körper eines Menschen. Sicher ist nur eines: Wer sich im Fundus von Kunst und Kultur umschaut, wird unzählige Beispiele finden, wie Künstler, Musiker und Autoren das Herz gewürdigt haben. Für die „Erlesenen Orte“, die gemeinsame Reihe von Stadtbücherei und Eßlinger Zeitung, hat der Schauspieler Gerhard Polacek unter dem verbindenden Motto „Dein ist mein ganzes Herz“ eine Vielzahl literarischer Herzensangelegenheiten ausgegraben, die ganz unterschiedliche Töne anschlagen. Und die präsentierte er in der Schule für Pflegeberufe des Esslinger Klinikums, wo das erlesene Publikum einen ebenso anregenden wie überraschenden Sommerabend erlebte.

Mitten ins Herz

Literatur kann man auf sehr unterschiedliche Weise genießen: Allein im stillen Kämmerlein, in der konzentrierten Atmosphäre einer klassischen Lesung - oder inszeniert in ungewöhnlichem Ambiente. Letzteres ist seit Jahren das Konzept der „Erlesenen Orte“, die Literatur erlebbar machen wollen. Bücherei-Leiterin Gudrun Fuchs, Gerhard Polacek und unsere Lokalredaktion halten stets nach ungewöhnlichen Veranstaltungsorten Ausschau, die man mit Literatur nicht unbedingt in Verbindung bringen würde und die ansonsten für die Öffentlichkeit kaum zugänglich sind. Jeder Abend bietet ein anderes Programm und bleibt so ein einmaliges Erlebnis. Und damit trifft jeder Abend auf ganz eigene Weise mitten ins Herz.

So war das auch in der Schule für Pflegeberufe am Esslinger Klinikum, die nun für einen Abend zum „erlesenen Ort“ wurde. „Ich wollte schon lange ein literarisches Programm zusammenstellen, in dem das Herz eine zentrale Rolle spielt“, verriet Polacek. Die meisten denken dabei erst mal an große Liebe, an Leidenschaft und pures Glück. Und vielleicht auch an Herzschmerz und Enttäuschung. Doch wer sich in der Literatur umschaut, wird feststellen, dass es in Lyrik und Prosa weit mehr gibt, was Autoren unterschiedlichster Epochen zum Herz zu sagen hatten und haben. Entsprechend breit gefächert war das literarische Programm dieses Abends.

Wer den Esslinger Schauspieler kennt, der weiß, dass er sich für jeden „erlesenen Ort“ eine Rahmenhandlung einfallen lässt. In der Schule für Pflegeberufe, wo man sich mit dem menschlichen Herzen aus medizinischer Sicht auskennt, las er passend zum Ort des unterhaltsamen Geschehens vom Krankenbett aus. Freunde der unzähligen Krankenhaus-Serien, die man im Fernsehen erleben kann, hätten ihre helle Freude am kleinen Intro gehabt: Das Publikum saß in einem der Unterrichtsräume und wartete auf den Beginn der Lesung - und plötzlich ging die Türe auf: Die Pflegeschüler Ellena Trapp und Stilianos Savvidis, die beachtliches darstellerisches Talent verrieten, schoben Polacek in seinem Bett in den Raum und kümmerten sich höchst routiniert um den angeblich armen Kranken, der plötzlich die Augen aufschlug und zum literarischen Teil des Abends überging.

Jenseits der Operettenseligkeit

Das Motto konnte den einen oder anderen erst mal auf eine falsche Fährte führen: „Dein ist mein ganzes Herz“. Seit den späten 20er-Jahren steht dieser operettenselige Titel für Liebesfreud’ und schieres Glück. Solche Klischees ließ Polacek von Autoren wie Tucholsky, Villon, Chamisso, Artmann oder Verissimo mit viel Vergnügen gegen den Strich bürsten. Wie sehr sich das Herz seinen Platz in unserem Sprachschatz gesichert hat, ließ er mit Hans Magnus Enzenbergers „Innenleben“ deutlich werden: Die einen haben das Herz am rechten Fleck, andere machen aus ihrem Herzen keine Mördergrube, wieder andere tragen ihr Herz auf der Zunge. Bohumil Hrabal und Johannes R. Becher zeigten, dass Politik zur Herzensangelegenheit werden kann, während die Erinnerungen des Herzchirurgen Christiaan Barnard deutlich machten, dass in jedem Menschen dasselbe Herz schlagen kann - ungeachtet seiner Herkunft und Hautfarbe. Autoren wie Erich Kästner, der ebenfalls zu Wort kam, nahmen die Sache eher mit Humor: Was ist das für ein Gefühl, wenn man im Röntgenraum zum ersten Mal das eigene Herz schlagen sieht und dabei sinniert, warum man sein Herz einer Frau geschenkt hat, die diese Gabe nicht zu schätzen weiß?

So ging’s quasi im Takt des Herzschlags durch die Wunderwelt der Literatur: Gedichte, Märchen, Prosatexte, Lebenserinnerungen und allerlei literarische Miniaturen zeichneten ein ebenso vergnügliches wie facettenreiches Bild des Herzens - selbst ein Kochbuchtext konnte unerhört erhellend wirken. Manches, wie Bertolt Brechts „Surabaya-Johnny“, hört man immer wieder gern, anderes, wie Connie Palmens Text „Herz und Verstand gehören zusammen“, klingt lange nach - ganz im Sinne des alten Goethe, dem wir die Erkenntnis verdanken: „Es muss von Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll.“ Genau so wie dieser Abend.