Einfach ultracool: Anna Osadcenko und Jason Reilly in Kevin O’Days Duo „Delta Inserts“. Foto: Stuttgarter Ballett Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Was für ein reiches Repertoire muss eine Kompanie haben, um mal eben einen so beeindruckenden Abend zusammenzustellen! Das Programm im viel zu kleinen Kammertheater zeigte zwölf Ausschnitte von Reid Andersons allererster Spielzeit am Stuttgarter Ballett bis heute, fast alle mit neuen Tänzern einstudiert, eine Heidenarbeit - aber was für ein Überblick über die Kreativität, die in Stuttgart blüht. Fast alle Choreografen waren persönlich gekommen, manche gerührt ob der Zeitreise in ihre Jugend. Ging ihre Entwicklung weiter, wurde zu einem individuellen Stil oder war dieses erste Aufflammen an choreografischer Fantasie besonders explosiv?

Weg der Entschleunigung

In den 90er-Jahren arbeitete man sich noch am bahnbrechenden Erbe von William Forsythe ab (manche Choreografen machen das heute noch) - das funktionierte mit Ausschlägen aus der Neoklassik ins Zeitgenössische oder, wie hier, mit Entschleunigung: Der ehemalige Forsythe-Tänzer Marc Spradling ging diesen Weg genau wie Martino Müller, inzwischen als Choreograf beim Cirque du Soleil berühmt geworden. Douglas Lee ebnete die scharfe, raffinierte Forsythe-Dynamik auf ein gleichmäßiges Tempo ein, das er in „Miniatures“ immer wieder durch Stopps unterbrach.

Zu Andersons allerersten Entdeckungen gehörte Mauro Bigonzetti, dessen raue, ehrliche Körperlichkeit, dessen Reichtum an ungewöhnlicher Bewegung im düsteren Männerduett aus „Orma“ aufstrahlte. Und was für eine laszive, amerikanische Lässigkeit hatte Kevin O’Day doch drauf, bevor er als Ballettdirektor in Mannheim der deutschen Nachdenklichkeit erlag - Anna Osadcenko und Jason Reilly sahen im Duo aus „Delta Inserts“ einfach ultracool aus.

Eine Myriade spitziger, aufregender Schritte, tolle Sprünge und die unmöglichsten Hebungen erfand Demis Volpi für sein erstes Auftragswerk „Big Blur“ - man fragt sich, was zwischen 2010 und der dagegen regelrecht am Boden klebenden „Salome“ nur passiert ist. Bridget Breiner spielte in ihrer Ritterballade „Sirs“ mit kleinen Pantomimefetzen und variierte sie in die rasanten Verwicklungen der drei Verehrer mit ihrer Dame hinein - selbst bei den Noverre-Abenden entstehen immer wieder Werke, die bleiben. Eine fast selbstzerstörerische Reaktion auf Chopins Nocturnes zeigt Edward Clug in „Ssss…“, die Pablo von Sternenfels und seine vier Kollegen mit kammermusikalischem Intellekt zelebrieren. Neueren Datums waren die zwei Solos: „The Boy“ von Louis Stiens wirkt wie ein Fall von harter Selbstdisziplinierung aus „Frühlings Erwachen“, während Katarzyna Kozielskas „Firebreather“ die Suche nach dem richtigen Platz im Leben mit explosiver Virtuosität angeht. Wir können auch ohne Daniel Camargo, sagt uns der Ballettdirektor mit der Besetzung des blutjungen Adhonay Soares da Silva, der tatsächlich nicht nur brillante Drehungen hinzwirbelt, sondern mit jedem seiner Auftritte an Ausdruckskraft gewinnt.

Verführerische Kindfrau

Schlichtweg grandios, wie schon 2003, sieht auch heute noch der Auftritt der Freier aus Christian Spucks „Lulu“ aus, sicher eine der besten Szenen, die er je choreografiert hat: geifernde, verkniffene Männer im Anzug, die zu einem ironischen Walzer von Dmitri Schostakowitsch um Lulu herumscharwenzeln. Die damalige Premierenbesetzung Alicia Amatriain hat nichts von ihrer verführerischen Kindfrau verloren, David Moores jugendliche Unschuld als Alwa muss als Plädoyer für eine Wiederaufnahme gesehen werden - wie überhaupt der Abend nicht nur den Choreografen, sondern auch den großartigen Interpreten gehörte, obwohl sie fast alle neu in ihren Rollen waren: der seit „Salome“ so viel ernsteren Elisa Badenes, Angelina Zuccarini mit ihrer unglaublichen Sprungkraft, jungen Tänzer wie Adam Russell-Jones, Louis Stiens oder Robert Robinson. Und allein, um Friedemann Vogel wieder Goecke tanzen zu sehen, hat sich die ganze Unternehmung gelohnt - das Schluss-Solo aus „Orlando“ zeigt auch die Entwicklung des vielbeschäftigen Hauschoreografen auf, dessen Stil nicht nur reicher, sondern fließender wurde.