Timo Beyerling, Wolfgang Fuhr und Marion Jeiter (von links). Foto: Aldinger Quelle: Unbekannt

Von Petra Bail

Esslingen - Was unterscheidet den Mensch vom Tier? Der aufrechte Gang, die Sprache, die Kleidung oder die kognitiven Fähigkeiten? Was passiert, wenn ein Mensch unter Wölfen aufwächst? Ist der dann ein Tier? Kann er Menschsein lernen? Das Publikum an der Jungen WLB darf eine Stunde lang die zauberhaften Optionen verfolgen, die die Junge WLB unter der Regie von Marco Süß dazu im Podium 2 anbietet. „Der weiße Wolf“, eine fantastische Erzählung von „Sams“-Autor Paul Maar für Zuschauer ab acht Jahren, hatte dort Premiere.

Die Königin in einem „fernen, fernen Land, das in den alten Zeiten bestand“ ist schwanger. Sie wird einen Sohn gebären: Dieser werde „ein Wolf, ein Untier, ein großes Unglück“, sagen die drei Magier unisono dem König voraus. Der ist von dieser Prophezeiung wenig entzückt, zumal sie auch noch vom blinden Agrippa, dem berühmtesten der drei Seher, kommt.

Fakt ist damals wie heute: Kinder entwickeln sich nicht immer nach den Vorstellungen der Väter. Dem Königssohn drohen bittere Konsequenzen. Ein Angestellter soll das Problem aus der Welt schaffen. Der mitleidige Diener bringt es aber nicht übers Herz, das Neugeborene zu ertränken. Da macht die Geschichte eine Kurve im Konjunktiv. Er hätte das Bündel mitnehmen können. Der Königsohn wäre im Dienerhaushalt aufgewachsen, hätte studiert und wäre Schauspieler geworden.

Brücke vom Märchen zum Heute

Tröstliche Idee für junge Zuschauer und ein eleganter Brückenschlag vom Märchen zum Heute, den Marco Süß in die Performance mit körperbetontem Schauspiel, angeleitet durch ganz viel Live-Musik von Wolfgang Fuhr einbindet. Die Klarinettentöne und Saxophonklänge sind ebenso ein Teil dieses wohltuend unaufgeregten Theaters, wie die Bewegungsabläufe, die fast die athletische Qualität von Breakdance haben. Natürlich nimmt der gehorsame Diener das Kind nicht mit. Er setzt es aus, eine Wölfin zieht es groß und der Königsohn wird zum Wolfskind, balgt sich mit den anderen, durchstreift imaginäre Wälder und hüpft wie ein Karnickel über die Bühne, sehr zur Freude des Publikums.

Marion Jeiter, Daniel Elias Böhm und Timo Beyerling verkörpern alle Personen und transportieren die Geschichte abwechselnd als Erzähler auf der minimalistisch ausgestatten Bühne von Katrin Busching. Sieben mannshohe Goldkronen sind die einzigen Requisiten. Aber was für welche. Sie sind Symbol, Schutzschilde und Percussioninstrumente, auf denen des Königs Soldaten trommeln, als sie Jagd auf die Wölfe machen. Und sie werden zum Käfig zusammengestellt, in dem der Wolfsjunge gefangen gehalten wird.

Immer wieder gibt es kleine komische Szenen, in denen die Kinder befreit lachen. Oft ist es die hinreißende, slapstickartige Choreografie von Andrea Lucas, die Heiterkeit auslöst oder ein Satz. Es ist tragisch, wenn der Bauer klagt, dass seine Familie leidet, wegen der dreisten Überfälle des cleveren Wolfsrudels, das sogar in verschlossene Ställe eindringt. „Der kleine Wolfgang, meine Frau und ich werden verhungern“, sagt er und die Kinder dürfen kichern.

Die wilde Jagd auf die Wölfe endet tödlich. Der König ersticht die Wolfsmutter, die sanfte Erzählerstimme wird dabei tröstlich umschlungen von zarten Saxophonklängen. Der weiße Wolf, der so heißt, weil er kein Fell und glatte weiße Haut hat, wird im goldenen Käfig als Kuriosum ausgestellt.

Ein alter Schulmeister erkennt, dass er ein Mensch ist, der zum Wolf gemacht wurde. Er nimmt ihn mit, gibt ihm Gekochtes zu essen, bringt ihm den aufrechten Gang bei und gibt ihm Kleider. Er lehrt ihn Menschsein, ein Prozess, der von Fuhrs Musik begleitet wird: erst das kakophonische Probieren, Straucheln und schließlich der Glaube an die eigene Fähigkeiten. Die Worte Tisch, Stuhl, Bett, kann der Wolfsjunge nicht sagen, die schiefen Quietschlaute kommen vom Musikinstrument. Erst die Zuneigung von Barbara, der Tochter des Schulmeisters, macht ihn zum Menschen. Er bekommt einen Namen: Warwolf.

Der Instinkt erwacht

Das Wilde scheint ihm ausgetrieben, wie bei den berühmten Beispielen aus der Literatur von Kaspar Hauser, über Victor von Aveyron bis zu den Sagengestalten Romulus und Remus. Konditioniert, domestiziert wird er dem Hofstaat vorgeführt, tauscht einstudierte Artigkeiten aus. Bei der Begegnung mit dem König erwacht sein Instinkt. Warwolf erkennt in ihm den Mörder seiner Wolfsmutter, beißt ihm die Kehle durch und flieht.

Wieder bietet das WLB-Team den jungen Zuschauern Möglichkeiten an, die das Ende erträglich machen. Er könnte wieder zu den Wölfen gegangen sein, in ein anderes Land oder Zuflucht bei Barbara gesucht haben. Und wer ist schuld an dem ganzen Fiasko? Die Magier, sagen Böhm und Beyerling. „Sie haben gelogen.“ Busching sieht das anders. Der König habe nicht richtig zugehört. Die Frau werde einen Sohn gebären, hätten die Seher gesagt. Der werde ein Wolf sein. „Der weiße Wolf“ ist eine wunderbare Parabel über Menschlichkeit und das, was aus Menschen gemacht wird. Die einfühlsame Inszenierung bietet Raum für Fantasie und damit die großartige Möglichkeit, das Schreckliche, das hinter dem Leichten steckt, nur so weit zuzulassen, wie es für jeden annehmbar ist.

Weitere Vorstellungen: am 25. März sowie am 1. und 2. April.