Den Mörder in der Hand: Das Video „Ayhan und ich“ der türkischen Künstlerin Belit Sag handelt von Ayhan Çarkın. Er hat 2011 zugegeben, als Angehöriger einer paramilitärischen Einheit an der Ermordung von mehr als 1000 Kurden beteiligt gewesen zu sein. Foto: Belit Sag / Württ. Kunstverein Quelle: Unbekannt

Von Dietrich Heißenbüttel

Stuttgart - 1982 in Moskau geboren, hat Katia Krupennikova zunächst Informatik studiert und als Analystin und Projektmanagerin gearbeitet, bevor sie sich auf die Kunstgeschichte verlegte und am Kuratorenprogramm des Appel Kunstzentrums in Amsterdam teilnahm. Nach der Krimkrise im Oktober 2014 kuratierte sie in Warschau eine Ausstellung mit russischen und ukrainischen Künstlerinnen. Zurück in Amsterdam, begann sie sich zu fragen: Leben wir im Frieden oder im Krieg? Wie viel Krieg und Gewalt steckt eigentlich in der längsten Periode des Friedens, die es in Europa je gab? Sie begann ein Ausstellungskonzept zu entwickeln, das den Begriff Nachkriegszeit auf den Kopf stellt: Post-Peace, Nachfriedenszeit. Damit bewarb sie sich bei einem Kuratorenwettbewerb der Akbank: eines der größten Unternehmen der Türkei, wo Kunst mangels öffentlicher Förderung gänzlich auf Privatinitiative angewiesen ist.

Schon das Nachdenken war zuviel

Krupennikova gewann den Preis. Doch vier Tage vor der Eröffnung im März 2016 sagte die Akbank ab. Eine der Künstlerinnen, Belit Sag, hatte sich in einer Videoarbeit mit dem Fall Ayhan Çarkın beschäftigt, der 2011 im türkischen Fernsehen zugegeben hatte, als Mitglied inoffizieller paramilitärischer Einheiten an der Ermordung von mehr als 1000 Kurden beteiligt gewesen zu sein. Sags Video lotet aus, was aussprechbar ist und was nicht. Doch schon dieses Nachdenken war der Akbank zu viel. Spontane Zensur oder Druck von oben? Scheut die Bank den Konflikt oder eher das Aufsehen? Der Fall illustriert schlagend das Thema der Ausstellung: den versteckten Krieg hinter einer Oberfläche des Friedens. Hans D. Christ und Iris Dressler vom Württembergischen Kunstverein, die der Jury angehörten, fühlten sich an „Die Bestie und der Souverän“ erinnert, die Ausstellung, die in Barcelona vor zwei Jahren zensiert werden sollte. Sie beschlossen, auch Krupennikovas Projekt nach Stuttgart zu holen.

In der Türkei herrscht ein extremer Nationalismus. Nach dem Ende des osmanischen Vielvölkerstaats suchte das Land den Zusammenhalt in einer ethnisch reinen Türkei: Armenier und Kurden durfte es nicht geben. Wie ungebrochen dieser Nationalismus noch immer ist, zeigt eine weitere Videoarbeit von Köken Ergun: Am 23. April, dem Tag des Kindes, schwört eine Armee von uniformierten türkischen Kindern in einem Stadion, „das Grab jedes Einzelnen auszuheben“, der nicht die Nationalfahne ehrt. Wer verstehen will, wie sich der fahnenschwingende Mob in der Türkei rekrutiert, sollte das Video ansehen.

Freilich geht es in der Ausstellung nicht nur um die Türkei, sondern um ein globales Problem. Beteiligt sind Künstlerinnen und Künstler aus Russland, der Ukraine, Polen, Deutschland, Irland, Holland, Belgien, Kuba und dem Nahen Osten, viele in Amsterdam und Brüssel lebend. Sie beziehen sich auf die USA oder Taiwan, den internationalen Waffenhandel und den Holocaust. Anna Dasović etwa verwendet Dokumentarfilmaufnahmen der Amerikaner, die 1945 die Bewohner von Weimar zwangen, das KZ Buchenwald anzusehen. Sven Augustijnen trägt, ausgehend von einer auf der jüngsten Documenta gezeigten Arbeit der Norwegerin Hannah Ryggen, in einem Langzeitprojekt, Dokumente aus aller Welt zusammen, die sich auf Fortwirkungen vergangener Gräueltaten beziehen. Pınar Ögrenci hat eine 84-jährige deutsche Freundin in München beim Fernsehen beobachtet. Zuerst kommentiert sie ein Quiz, dann zappt sie in eine Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg und erzählt von ihren eigenen Erlebnissen.

Vielschichtiges Bild der Geschichte

Lyubov Matyunina, die aus Kaliningrad (Königsberg) stammt, zitiert in einer Videoinstallation E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen „Klein Zaches, genannt Zinnober“. Aus Zeitungen, die in Kaliningrad zum Tapezieren verwendet wurden, entsteht ein vielschichtiges Bild der Geschichte. Ella de Búrca wiederum hat im Eingangsbereich der Ausstellung Dachziegel ausgelegt, wie sie während eines englischen Handelsembargos 1938 in Irland produziert wurden. Eingeprägt ist das Wort „Defiance“ (Ungehorsam). Alevtina Kakhidzes Arbeit handelt von ihrer Mutter, die in der Region Donezk lebt und sich endlich Frieden wünscht, wie nach dem Zweiten Weltkrieg: Soldaten steigen aus dem Panzer, das Kriegsende wird feierlich besiegelt. Kakhidze hat eine riesige Karte an die Wand gezeichnet, um zu zeigen, wie sehr die Geschichte der beiden Weltkriege in den Grenzziehungen der Region fortlebt.

Zwei Arbeiten beziehen sich auf Palästina: Schussgeräusche dienen als Beweismittel, und aus Landschaftsaufnahmen sind die israelischen Siedlungen herausgekratzt. Ein anderer Schauplatz sind die USA: Im Video von Dorian de Rik ist das Wachpersonal in den Banken der Wall Street und am Ground Zero eingeschlafen, während die Fahrgäste der U-Bahn aufgefordert werden, immer wachsam zu bleiben. Radek Szlagas Zeichnungen beschäftigen sich mit dem Briefbomben verschickenden Anarchisten Theodore Kaczynski, vor seiner Identifizierung als „Unabomber“ (University and airline bomber) bekannt, weil er die explosiven Briefe vor allem an Professoren und Vorstandsmitglieder von Fluggesellschaften adressierte.

Der Athen lebende Kubaner Adrian Melis unterlegt vier Videos mit nicht zugehörigen Tönen, etwa den Mauerfall mit Tonaufnahmen von einer Straße in Havanna. Der Iraner Ehsan Fardjadniya, der unter der Abkürzung A.S.I. - für Anonyme staatenlose Immigranten - auftritt, hat eine Tragödienbühne der russischen Suprematistin Alexandra Exter aus Europaletten nachgebaut. „Hinterland“ nennt er sein Stück, in dem Waffen-Transportkisten herumstehen. In einem schwer zu ertragenden, aber unbedingt sehenswerten Video hat Johan Grimonprez einen ehemaligen Waffenhändler und einen Kriegsberichterstatter der New York Times interviewt. Anika Schwarzlose hat Bilder von Institutionen wie der UN-Generalversammlung, dem Internationalen Währungsfonds, dem Europaparlament und dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu einer leeren Kulisse vereinigt.

Ein Fazit solcher Arbeiten und der ganzen Ausstellung: Frieden ist nicht einfach da, sondern erfordert viel Arbeit, wenn nicht die dunklen Machenschaften der Waffenhändler und der fanatischen Nationalisten Oberhand gewinnen sollen.

Bis 7. Mai im Kunstgebäude am Stuttgarter Schlossplatz. Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr.