Von Dietrich Heißenbüttel

Stuttgart - „Ein Würfelwurf wird niemals den Zufall beseitigen“: Der paradoxe Satz, Titel des letzten Werks des symbolistischen Dichters Stéphane Mallarmé, hat es in sich. Scheint doch im deutschen Wort Zufall schon das Fallen der Würfel enthalten. Was bedeutet eigentlich Zufall? Eine weitere Paradoxie: Zufall lässt sich nicht definieren. Denn jede Definition würde den Zufall berechenbar, vorhersagbar machen: Er wäre damit kein Zufall mehr. So lässt sich nur festhalten: Zufall ist das, was sich nicht vorhersagen oder berechnen lässt. Andererseits lassen sich, mit Hilfe von Würfeln oder des Computers, zufällige Zahlenfolgen oder Anordnungen von Linien und Farben erzeugen. Sonst gäbe es die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart nicht.

Mallarmé steht am Anfang der künstlerischen Erkundung des Zufalls. Die Surrealisten huldigten dem Unerwarteten im „objektiven Zufall“, hinter dem sie eine höhere Realität vermuteten. So ließ sich Max Ernst von den Zufällen durchgeriebener Stoffmuster zu Bildkompositionen anregen. Oder von den Unwägbarkeiten der Décalcomanie: mit feuchten Farben von einer Unterlage abgezogenen Papieren. Marcel Duchamp ließ dreimal eine Schnur fallen und machte aus den so entstandenen Wellenformen Kurvenlineale. Freilich muss der Künstler die Absicht schon vorher gehabt haben. Labyrinthische Fadenknäuel schloss er aus. Der Zufall gelangt niemals ganz zufällig in die Kunst. Er ist immer in bestimmter Weise gesteuert. Er versteht sich hier als Verwandter des Readymade: als Verfahren, den altertümlichen Gedanken des schöpferischen Originalgenies zu überwinden, der aus seinem tiefsten Inneren durch göttliche Inspiration oder mit Hilfe der Musen sein Werk zaubert.

Sternstunde in den 60er-Jahren

Die Surrealisten - um weiter der Chronologie der Ausstellung zu folgen - erfanden das Spiel „cadavre exquis“, das wohl fast jeder kennt, wenn auch vielleicht nicht unter diesem Namen: Auf einen gefalteten Zettel zeichnet der Erste einen Kopf oder schreibt ein Wort, der Nächste fährt fort, ohne den Anfang zu kennen, bis am Ende ein Satz oder eine Figur dasteht, die höchst unerwartet und oft ziemlich komisch aussieht. Die Recherchen für die Ausstellung brachten es mit sich, dass im Archiv solche „exquisiten Kadaver“ - die Wortkombination verdankt sich eben einem solchen Zufall - von Willi Baumeister zum Vorschein kamen. Wer daran noch mit gezeichnet hat, ist nicht bekannt. Das Vorgefertigte, heterogen Zusammengesetzte, das in der zufälligen Kombination neue Bedeutungsebenen entfaltet: solche Gesichtspunkte spielen auch in die Collagen von Baumeister, Hannah Höch oder Franz Krause hinein.

Die eigentliche Sternstunde des Zufalls in der Kunst aber schlägt in den 1960er-Jahren. Die exakten Wissenschaften beanspruchten die alleinige Deutungshoheit. Dem wollte die Kunst Paroli bieten. Max Bense versuchte mit seiner „generativen Ästhetik“ über statistische und topologische Verfahren das ästhetische Objekt, sprich das Kunstwerk zu generieren. In seiner Studiengalerie stellten Frieder Nake und Georg Nees erstmals weltweit - und damals heftig umstritten - computergenerierte Werke aus.

Der Pforzheimer Manfred Mohr trieb ab 1969 diese Entwicklung weiter. Zu ganz ähnlichen Resultaten waren François Morellet oder Gerhard von Graevenitz aber über Zahlenfolgen oder durch Würfeln schon vorher gelangt. Zufallsgesteuerte Kunst dieser Art - mit oder ohne Computer - erweist sich als eine Spielart der konkreten Kunst. Eine explizit spielerische Variante: Graevenitz entwarf Spielobjekte, die zum Anfassen einluden und der unnahbaren Aura des Kunstwerks den Boden entzogen. In der Ausstellung findet sich ein „Essbild“ von Dieter Hacker, das auf den ersten Blick aussieht wie ein chinesisches Go-Spiel. Aber die vermeintlichen Spielsteine sind Pfefferminzplätzchen: Der Ausstellungsbesucher darf sich bedienen und bestimmt so die Bildform mit.

Spielerische Erkundung

Hansjörg Mayers „Typoaktionen“, permutative und computergenerierte Texte; die Aleatorik John Cages, ohne den auch die Fluxus-Bewegung nicht denkbar wäre; zu ergänzen noch die Stochastik bei Iannis Xenakis: Zufallsprinzipien spielten auch in den anderen Künsten eine große Rolle, was die Ausstellung mit einigen der wichtigsten Vertreter dokumentiert. Ausgangspunkt für die Kuratorin Eva Marina Froitzheim war gleichwohl nicht die „Stuttgarter Schule“ oder etwa eine Entdeckung im Depot des Museums. Sie beschäftigt sich seit gut zehn Jahren mit dem Thema, ausgehend von einer Radiosendung des Wissenschaftsjournalisten Stefan Klein. Beiträge von ihm, von Bettina Thiers über Literatur, sowie weitere über Musik, Philosophie und Spielfilm finden sich im Katalog. Ebenso über Mathematik von Dietmar Guderian, der mehrfach an Kunstausstellungen mitgewirkt hat und zusammen mit Physikern der Universität Stuttgart in einem „Versuchslabor“, leider weit weg von der Ausstellung am anderen Ende des Museums, dazu einlädt, spielerisch selbst zu erkunden, welchen Zufallsoperationen die Kunstwerke ihre Entstehung verdanken.

Den Zufall, so will es fast scheinen, erkennt man an exakt geometrischen Formen. Handschriftliches wie bei Henri Michaux, ein Video von Marcel Broodthaers, der im strömenden Regen schreibt, oder eine Sammlung von Objekten aus Stuttgarter Andenkenläden, die Guillaume Bijl 1990 zusammentrug, offenbaren das Zufallsprinzip erst auf Nachfrage. Eine poetische Ausnahme sind einige Collagen von Herman de Vries, der Blätter auf dem Papier so fixierte wie sie vom Baum fielen. Neuere Arbeiten suchen wieder Anschluss an die äußere Welt, etwa wenn Niki de Saint-Phalle auf Farbbeutel schießt oder Ben Vautier in der jüngsten Arbeit einer Serie, anspielend auf den Anschlag in Nizza im Juli, als ein Mann mit einem Lkw in eine Menschenmenge raste, schreibt: „Zufall existiert nicht.“ Zufallsoperationen spielten schon im Maya-Orakel oder im chinesischen I-Ching eine Rolle, dessen sich John Cage bediente. Patrycja German kehrt die Blickrichtung um, indem sie mit den Lenormandkarten der Wahrsagerin Napoleons Besuchern die Karten legt.

Die Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart läuft bis 17. Februar 2017 und ist dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, freitags bis 21 Uhr geöffnet. Der 168-seitige Katalog kostet im Museum 29 Euro.