Dietholf Zerweck

Stuttgart - Ein junger Gast beim Staatsorchester Stuttgart, das im kommenden Jahr sein 425-jähriges Bestehen feiert: der 27-jährige Brite Ben Gernon kann durchaus als aufgehender Stern am Dirigentenhimmel bezeichnet werden. 2013 hat er den begehrten Young Conductors Award bei den Salzburger Festspielen gewonnen, wurde Assistent von Gustavo Dudamel beim Los Angeles Philharmonic Orchestra, und im Herbst dieses Jahres wird er Principal Guest Conductor beim BBC Philharmonic. Was bei Ben Gernon spontan beeindruckt, ist nicht nur seine lässig sportive Art, mit der er sich im Sonntag-Matineekonzert im schwarzen T-Shirt unterm Jackett aufs Podium in der Liederhalle schwingt. Ohne Taktstock bringt er Benjamin Brittens „Four Sea Interludes“ in Wallung, und spätestens bei den vertrackten Rhythmen in Tschaikowskys 4. Sinfonie ist klar, was für Gernon vorrangig zählt: nicht das minutiös austarierte Metrum, sondern der mit weiten, organischen Armbewegungen organisierte Strom der Musik.

Brittens vier Intermezzi aus seiner Oper „Peter Grimes“ sind fast im gleichen Jahr uraufgeführt worden wie Erich Wolfgang Korngolds zwischen 1937 und 1945 komponiertes Violinkonzert. Während Gernon bei Britten die anschauliche Bildhaftigkeit der Morgendämmerung, der sonntäglichen Dorfglocken und des „Moonlight“, welches vom Orchester in scheinbar naiver Simplizität mit samtigem, von Fagotten und Hörnern grundiertem Streicherchoral evoziert wird, im „Sturm“-Intermezzo die wilde Erregung zu großer Emphase steigert, spielt er für Carolin Widmann als Solistin den aufmerksamen Begleiter. Erich Wolfgang Korngold ist erst in jüngerer Zeit für den Konzertsaal wiederentdeckt worden, zu vernichtend war das Urteil der Schönberg-Schule über den von Wien nach USA emigrierten „Hollywood-Komponisten“, der für seine Filmmusiken mit Oscars ausgezeichnet wurde. Auch die Themen seines Violinkonzerts sind aus Filmen übernommen, für die Korngold die Musik komponierte, besonders im Finalsatz glaubt man schon die spätere Kopie der amerikanischen „Bonanza“ - Fernsehserie mitzuhören. Doch die weiten Melodienbögen des Kopfsatzes, die gefühlvollen Kantilenen des „Romance“-Andantes sind von intensivem Ausdruck, mit fernen Anklängen an Mendelssohn und Brahms. Widmann, die sich „mit Passion und Hingabe“ für dieses Konzert einsetzt, bewegt sich in silbrigen Höhenflügen über den Klangwogen des Orchesters, gibt mit feinem, flageolett-schimmerndem Sordino-Ton dem langsamen Satz traumhafte Leichtigkeit und präzise Kontur und nimmt dem Werk jegliche penetrante Süße und Schwülstigkeit. Am Schluss trumpft sie mit selbstverständlicher Virtuosität auf, ihre Zugabe von J.S.Bachs d-Moll-Sarabande kommt aus einer anderen Welt.

„Dies ist das Fatum, das Schicksal, jene verhängnisvolle Macht, die unser Streben nach Glück nicht verwirklichen lässt, die eifersüchtig darüber wacht, dass Glückseligkeit und Friede nicht voll und wolkenlos sei, die wie Damokles’ Schwert über unserem Haupte hängt und unsere Seele immer und immerfort vergiftet“: so hat Tschaikowsky in einem Brief an die Gönnerin Nadeschda von Meck die Blechbläser-Fanfare zu Beginn seiner f-Moll-Sinfonie gedeutet, und Ben Gernon lässt die dissonanten, harsch abreißenden Beckenakkorde an ihrem Ende auch mit aller Wucht niederfahren. Doch ist seine Interpretation nicht plakativ, sondern mit der Akzentuierung vieler Mittelstimmen sorgt er für unruhige, vieldeutige Bewegung. Das Andantino hält er im zügigen musikalischen Fluss, die Streicher-Pizzikati im Scherzo tanzen hurtig vorüber, zum „Allegro fuoco“ befeuert er die Musiker mit weit erhobenen Armen und versetzt die auflodernden Streicher in extreme dynamische Spannung bis zur Wiederkehr der Schicksalsfanfare. Die finale Stretta ist im Tempo turbulent forciert, der Schlussakkord verpufft, der Beifall kommt begeistert.

Eine weitere Aufführung beginnt heute um 19.30 Uhr im Stuttgarter Beethovensaal.