Wie ein Hohepriester seiner Kunst: Grigory Sokolov in der Liederhalle. Foto: AMC Verona Quelle: Unbekannt

Von Dietholf Zerweck

Stuttgart - Auftritte des russischen Pianisten Grigory Sokolov haben die Aura eines Rituals. Wenn der 66-jährige Meister - spät in seine Weltkarriere gestartet, inzwischen aber der führende Tasten-Guru mit einer inbrünstigen Hörergemeinde - wie ein Hohepriester seiner Kunst zum Flügel schreitet, ist die Erwartung auf Außergewöhnliches im abgedunkelten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle mit allen Sinnen zu spüren.

Ein kurzer Augenblick der Konzentration, dann hebt sich der Arm, mit dem Fallen der Hand und der Berührung der Taste erklingt der erste Ton, kristallin und geschliffen, vollkommen geformt und offen für die Korrespondenz mit allem, was folgen wird. Nur ein Schimmer fällt auf das lichte Haar Sokolovs, die ganze holzgetäfelte Bühnenmuschel liegt im Dämmerlicht. Geste und Mimik, bei anderen Pianisten - wie zuletzt bei Igor Levit an gleicher Stelle - ein nicht unwichtiger Teil der Performance und Interpretation, spielen gar keine Rolle. Es geht allein um den Ausdruck der Musik - und die erreicht beim ungemein nuancierten Anschlagvirtuosen und Werkdeuter Sokolov faszinierende Höhen und Tiefen.

Erschütterungen nachgespürt

„Mystische Intensität“ wird ihm von der Fachkritik bescheinigt, und schon bei Mozarts „Fantasie und Sonate c-Moll“ aus den Jahren 1785/86 kann man erleben, wie Sokolov den Erschütterungen dieser beiden aufeinander bezogenen Stücke nachspürt. Attacca schließt er das dreifache chromatische Thema des Adagio-Beginns der Fantasie an den Schlussakord des Rondo der zuvor gespielten C-Dur-Sonate KV 545 an, statt des erwarteten Forte ist der oktavierte Unisono-Einsatz ins Mezzo-Zwielicht zurückgenommen, der Kontrast zu den sich verflüchtigenden Dissonanzterzen in Schwermut eingeebnet. Bis zur Allegro-Kadenz wird nichts in diesem von Melancholie überschatteten Stück demonstrativ hervorgekehrt, umso brutaler dann die Kadenz in der Überleitung zum Andantino, dessen innere Unruhe sich steigert und die ganze folgende Sonate mit erfüllt. Bei deren Interpretation hat man manchmal den Eindruck, als wolle Sokolov den Verlauf abbremsen, die Rubati im Adagio-Satz wirken wie erfroren, das Finale - im Autograph mit „Molto allegro. Agitato“ überschrieben - ist wiederum eher verlangsamt, mehr Lähmung als Erregung.

Was die Tempi-Wahl angeht, hat schon die einleitend gespielte „Sonata facile“ überrascht: 1788 von Mozart als „eine kleine Klaviersonate für Anfänger“ komponiert, spielt Sokolov sie mit Nachdruck, mit sprühenden Läufen im Allegro, mit innerer Spannung das Andante, anmutig und etwas gemächlich das Rondo Allegretto.

Klangfarbiger Fluss

Gegensätzliche Klangwelten dann im Beethoven-Teil des Programms. Die e-Moll-Sonate op.90 - vom Komponisten gegenüber dem Widmungsträger Graf von Lichnowsky als Kampf zwischen Kopf und Herz dargestellt - entwickelt sich unter Sokolovs Händen aus dem markanten Kontrast von rhythmischen Akzenten und lyrischem Empfinden zu wunderbar klangfarbigem Fluss im zweiten Satz, der nach Beethovens Anweisung „nicht zu geschwind und sehr singbar vorzutragen“ ist. Dennoch ist hier viel mehr Dynamik zu spüren als in Sokolovs Mozart-Interpretationen, und zum wirklichen Erlebnis wird seine Wiedergabe von Beethovens letzter Sonate op.111. Von den klafterförmig herausgeschleuderten Intervallsprüngen der Maestoso-Einleitung bis zu den fünf zwischen klangvoller Schlichtheit und gelassenem Überschwang fließenden Variationen der Arietta nach den wild bewegten Stürmen des Kopfsatzes ist dies eine grandiose Interpretation. Nun könnte der Klavierabend nach zwei Stunden zu Ende sein, doch es folgt der freudig erwartete Zugaben-Marathon. Eingeleitet von Schuberts Moment musical C-Dur werden es, mit einem Rameau‘schen „Pièce de clavecin“, Schumanns „Arabeske“ und dreimal Chopin, diesmal sieben - eine mehr als beim letzten Sokolov-Recital in der Liederhalle. Jedes Stück ein Juwel.