Von Ingo Weiß

Stuttgart -Seit drei Jahren müssen die Night of the Proms ohne finanziell potenten Sponsor auskommen. Das schärft den Organisatoren scheinbar wieder die Sinne und fördert ihren Ideenreichtum. Die Proms, diese längst etablierte Klassik-trifft-Pop-Show, erfindet sich ein wenig neu und macht aus relativ wenig relativ viel - zum Wohlgefallen aller, die sich damit so kuschelig warm auf die Weihnachtstage einstimmen.

So performen die Künstler, die bislang en bloc abgefertigt wurden, neuerdings in beiden Konzerthälften, vor und nach der Pause. Das mischt das Programm lebhaft auf. Mehr noch: Jüngere Künstler treten zusammen mit „Alt-Stars“ auf (beispielsweise Ronan Keating mit John Miles), was ein weiteres Element der bereits eingeleiteten Verjüngungskur der Proms ist. Kurzum: Es ist in der Stuttgarter Schleyer-Halle diesmal ein sehr homogenes, stellenweise fast schon besinnliches Geben und Nehmen.

Angesichts der Dominanz der Pop- und Rock-Acts in den vergangenen Jahren könnte man glauben, es wäre die Klassik, die letztendlich starke Zugeständnisse machen muss. Doch auch dem ist heuer nicht so. So beeindruckt das Streicher-Trio „Time for Three“ (Tf3 - zwei Violinen und Kontrabass) zu Beginn die 6000 Fans. Die drei „Men in Black“ reüssieren mit einer Mischung aus Leidenschaft und effektiver Bühnenshow. Mal gewöhnungsbedürftig-expressiv („Ogden“), mal herzzerreißend wie bei ihrer Tribute-Elegie „Free Souls“ für die Terror-Opfer im Pariser Club Bataclan bewegen sich die US-Boys Nicolas Kendall, Ranaan Meyer und Charles Yang zwischen Klassik und modernem Sound aus Pop, Country und Jazz - wenn das mal nicht perfekt zum Credo der Proms passt! Die klassisch ausgebildete Garagen-Band jagt die U-Musik ganz schön vor sich her.

Arrieche sprüht vor Energie

Noch formidabler gelingt das Alexandra Arrieche. Die rassige Brasilianerin ist die neue, fantastische Maestra. Anders als ihr Kult-Vorgänger Robert Groslot platzt sie schier vor Energie, führt den Taktstock überbordend wie ein Musketier den Degen. Sie singt, summt, tanzt jedes Stück mit, ihr Temperament ist umwerfend. Und sie treibt damit, egal ob bei Stravinsky, Chatschaturjan, Bizet oder Tschaikowsky, das Orchester zu Höchstleistungen an. Wie in jenem magischen Moment, als Il Novecento Musik aus der angesagten TV-Serie „Game of Thrones“ spielt. Einziger Wermutstropfen: Die klassischen Stücke sind überwiegend zu ernst, zu getragen. Die Leichtigkeit früher Jahre fehlt an einigen Stellen.

Eine Leichtigkeit, die die Schweizerin Stefanie Heinzmann brillant verkörpert. Wer dieses scheinbar leicht nerdige Mädchen mit ihrer riesigen Brille bislang nicht kannte, dem klappt kurzerhand die Kinnlade runter. Die sympathische Walliserin in ihren zerrissenen Jeans und Hosenträgern singt die Halle bereits früh im Stile von Anastacia in Grund und Boden. Das tiefenentspannte „My man is a mean man“ kommt noch in balladeskem Gewand, „On Fire“ rockt dann die Arena bis zur Gänsehaut. Mit „I want you back“ verbeugt sich die 27-jährige Soulsängerin mit überragender Stimme zusammen mit Tf3 vor Michael Jackson. So klingt orchestraler Funk, und die stille Nacht hat keine Chance.

Gegen den Stimmvulkan Heinzmann hat der Klangkörper Natasha Bedingfield ebenfalls keine Chance. Die Stimme des britischen blonden Pop-Sternchens klingt im direkten Anschluss, nun ja, nett. Mit „Soulmate“ und „These Words“ erzielt die 35-Jährige deshalb nur leicht erhöhte Aufmerksamkeitswerte, obwohl das Orchester die Mainstream-Songs größer macht, als sie sind. Dafür umso mehr mit ihren teilweise freizügigen Outfits. Es ist das erste Mal, dass die Proms so etwas wie Erotik erlauben, aber selbst, als sich Bedingfield zu Ehren des verstorbenen Prince in „Purple Rain“ respektabel die Seele aus dem schwarzen Body singt, steigt die Stimmung nur unwesentlich. Bei ihr wirkt manches wie Powergymnastik im Shopping-Sender.

Publikumsliebling Ronan Keating

Wer glaubt, die Crossover-Show sei nunmehr fest in Frauenhand, irrt. Ronan Keating fährt als Erster mit dem Publikum musikalisch Schlitten. Als der Ex-Teeniestar von Boyzone die diesmal recht kleine Bühne betritt, ist sofort alles anders. Oder sagen wir: Insbesondere die Damenwelt ist völlig losgelöst und schmilzt zum Song „When you say nothing at all“ aus dem Herz-Schmerz-Erfolgsfilm „Notting Hill“ dahin. Der 39-jährige Ire im piekfeinen schwarzen Anzug mit Uhrkettchen am Jackett bringt mit unverwechselbarer Stimme die Halle auf Touren. Als „Prince Charming“ bei „Life is a Rollercoaster“ schließlich ins Auditorium hinabsteigt, steigt er zum Publikumsliebling des Abends empor. Das ist, bei aller Kürze, Entertainment vom Feinsten. Endgültig verzaubert Keating die Fans, als er mit dem schlanken und ranken „Mr. Music“ John Miles (67) den Cat-Stevens-Klassiker „Father and Son“ brillant duettiert: ein ganz besonderer Proms-Moment.

Wer den kraftvoll-hymnischen Auftritt der Simple Minds im Theaterhaus im Februar 2015 erlebt hat, kann sich eine Steigerung kaum vorstellen. Und doch klingen Songs wie „Waterfront“ und „Don‘t you forget about me“ (aus dem Film „The Breakfast Club“) mit Sinfonie-Orchester noch grandioser. Schon zum dritten Mal sind die Schotten, die von den einzigen noch verbliebenen Originalmitgliedern - dem Sänger Jim Kerr und dem virtuosen Gitarristen Charlie Burchill - vertreten werden, bei den Proms, aber das macht rein gar nichts. Denn eine hinreißendere Sieben-Minuten-Version von „Belfast Child“, dieser von Tf3 unterstützten, beklemmend schönen Ballade über den nordirischen Bürgerkrieg, hat man noch nie gehört. Spätestens da weiß die Arena, warum die 1978 in Glasgow gegründete Band mit ihrem majestätischen Stadionsound in den 1980er- und 1990er-Jahren auf einer Stufe mit U2 gestanden haben. Mystik und Magie sind hier eins.

Zum Schluss singen alle zusammen „Heroes“, die elektrisierende Huldigung an den verstorbenen David Bowie. Keating singt seinen Part sogar auf Deutsch. Ein echter Held - für einen Abend, wie allen anderen Künstler. Ein neuer Proms-Held für 2017 ist da schon „geboren“. Rodger Hodgson von Supertramp kündigte per Videobotschaft persönlich sein Kommen für den 19. Dezember 2017 an. So eine frühe Bekanntgabe hat es auch noch nie gegeben.