Das fünfköpfige Ensemble spielt sich um Kopf und Kragen. Foto: oh Quelle: Unbekannt

Von Verena Großkreutz

Stuttgart - Es gibt eine Menge lustiger Szenen: Etwa wenn Schauspieler Peter René Lüdicke als Papa sich verschluckt und die zerkauten Würstchen dem Säugling im Arm genau ins Gesicht kotzt. Oder wenn der anonyme Ich-Held des Romans seine Taten beichtet (während der Beichtstuhl provisorisch mit einem Küchensieb angedeutet wird). Er habe die Strumpfhose der Caritas-Frau geklaut und eine Steinschleuder draus gemacht, worauf der Pfarrer ein gelangweiltes „Schlimm, sehr schlimm!“ herausdruckst, ob der lächerlichen Banalität solcher Sünden.

Ja, die Premiere von Frank Witzels für die Bühne bearbeiteten Roman, der mit „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ einen wahrlich barock anmutenden Titel trägt, ist zunächst kurzweilig, weil das fünfköpfige Ensemble sich um Kopf und Kragen spielt. Und das inmitten von Schaufensterpuppen im Outfit der 1970er-Jahre, die rosa Pullunder, weiße Rollis, Glitzerkleidchen tragen (Kostüme: Annette Riedel). Stumme Kinder-, Frauen- und Männerpuppen mit Mopp-Frisuren bevölkern dichtgedrängt die Bühne der Staatstheater-Außenspielstätte Nord. Bühnenbildnerin Katrin Brack assoziierte damit vielleicht die Kaufhaus-Brandstiftungen, mit denen die RAF-Gründer Baader und Ensslin 1968 in Frankfurt am Main ihrem Protest gegen den Vietnamkrieg Ausdruck verliehen. Ansonsten bleibt die Ausstattung aber kunstgewerbliche Staffage.

Es ist die zweite Premiere dieser Koproduktion. Die Uraufführung fand im April dieses Jahres an der Berliner Schaubühne statt.

Zeit des Umbruchs

Vor der erstarrten Puppenwelt wird ekstatisch-zuckend getanzt (besonders leidenschaftlich- anarchisch: Paul Grill) und mit Knallerbsen geballert. In moosgrünen Nickis werden Szenarien aus dem merkwürdigen Alltag eines jungen Mannes aus der hessischen Provinz nachgespielt, dessen Leben eng verwoben ist mit dem politischen Erwachen der alten Bundesrepublik. Jene Zeit, in der mit der 1968er-Bewegung die Zeit beginnt, da man sich vom Muff nicht nur unter den Talaren, sondern der gesamten Nachkriegszeit und ihrem verdrängten Nazi-Grauen zu befreien suchte. Eine Zeit des Umbruchs, die auch die Welt des 13-Jährigen erschüttert. Da gründet er mit zwei anderen Teenagern auf dem Lande eine zweite RAF - schwer bewaffnet mit Wasserpistole, Buzzer und Silly Putty (hüpfendem Kitt) - und wird von der Polizei verhört. Wenn Erwachsene gekonnt Kinder spielen, dann ist das per se unterhaltend: nicht nur Tilman Strauß mit Indianer-Federkopfschmuck, der eindrückliche Blicke in die verdunkelte Seele des jungen Protagonisten gewährt, oder Jule Böwe als Mitglied besagter Jugendgang.

Witzels komplexer, diskursiver 800 Seiten dicker Roman von 2012 wurde freilich wegen seiner virtuosen und kunstvollen Verknüpfung unterschiedlichster literarischer Formen - „vom inneren Monolog über die Action-Szene oder das Gesprächsprotokoll bis zum philosophischen Traktat“ - 2015 mit dem Deutschen Buchpreis bedacht. Die Jury nannte ihn ein „im besten Sinne maßloses Romankonstrukt“, „ein genialisches Sprachkunstwerk“, „das ein großer Steinbruch ist, ein hybrides Kompendium aus Pop, Politik und Paranoia“. Und wieder einmal darf man die Frage stellen, ob sich ein solch maßlos sich prosaisch ergießendes Werk für die dialogorientierte Theaterbühne eignet. Und es überrascht wohl nicht, wenn man nach dem zweiundeinviertel Stunden langen Abend konstatieren muss: Nein.

Die Episödchen, die Petras mit der Dramaturgin Maja Zade zusammenextrahiert und dann inszeniert hat, ergeben keine spannungstragende Handlung. Da ist von einem Banküberfall die Rede oder von der vorgetäuschten Entführung einer Caritas-Familienbetreuerin , die später wieder als Festrednerin auf einer DDR-20-Jahresfeier auftaucht (sehr witzig: Julischka Eichel als exaltierte Giftschlange). Dialoge werden oft im „sagte Bernd“- und „sagte Claudia“-Modus erzählt. Will man sowas nicht lieber lesen? Nach 90 Minuten schützt auch die mitreißende Spielwut des Ensembles den Abend nicht mehr vor der Langeweile. Reine Prosa-Texte auf der Bühne bremsen sich oft selbst aus. Warum der titeltragende Teenager in der Psychiatrie landet und dort im Rahmen einer „Zug-Therapie“ mit anderen Insassen durchs Theater polonaised, bleibt unklar. Alle spielen alle. Tiefer in die Rollen oder die Geschichte wird nicht hineingegangen. Im Zigarettenqualm und Kunsteisnebel reihen sich die Episoden klamaukig aneinander wie die Erinnerungen an Ministranten- und Pfadfindertum.

Der Roman als launige 60er- respektive 70er-Jahre-Retroparty. Mehr ist nicht.

Nächste Vorstellungen im NORD: heute (19.12.) und am 11. Februar 2017, jeweils um 20 Uhr.