Georg Christian Kessler im Jahr 1825, Gemälde von Jean-Baptiste-Louis Germain. Unten ein Etikett mit Hinweis auf Teilhaberschaft an Veuve Clicquot. Quelle: Unbekannt

Georg Christian Kessler war bis Mitte 1826 Mitinhaber desChampagnerhausesVeuve Clicquot-Ponsardin. Kessler verzichtete auf seine Geschäftsanteile an Champagnerhaus und Bank in Reims.

Von Rulf Neigenfind

Anfang 1826 sah sich der 39-jährige Georg Christian Kessler mit einer Krise konfrontiert, die ihn am Ende zwang, überstürzt in die deutsche Heimat zurückzukehren und 20 Jahre seines Lebens in Frankreich für immer hinter sich zu lassen. Diese für ihn so schmerzhafte Wende hatte jedoch auch etwas Gutes: Gleich zwei Esslinger Traditionsunternehmen verdanken ihr die Existenz: die Textilfabrik Merkel & Kienlin („Esslinger Wolle“) und die Sektkellerei Kessler.

Georg Christian („Georges“) Kessler war bis Mitte 1826 nicht nur Mitinhaber des Champagnerhauses Veuve Clicquot-Ponsardin in Reims, sondern auch Geschäftsleiter einer Bank, die er im Jahr 1821 zusammen mit Barbe Nicole Clicquot-Ponsardin am selben Ort etabliert hatte. Auf Kesslers Betreiben war die Bank seit 1823 an der Firma Keßler, Hübler & Comp. beteiligt, die dabei war, in Esslingen am Neckar eine Textilmanufaktur nach französischem Muster aufzubauen. Der im Firmennamen genannte „Keßler“ war jedoch nicht etwa Georg Christian; es war sein älterer Bruder, der Publizist, Ökonom und Politiker Dr. Heinrich Kessler. Auch der Kaufmann Christoph Ludwig Hübler aus Ludwigsburg gehörte zur Familie, denn er war mit der Schwester der Kessler-Brüder verheiratet. Treibende Kraft hinter dieser Unternehmung war jedoch zweifelsohne Georges Kessler, der 1819 in die Familie eines der bedeutendsten Textilfabrikanten Frankreichs eingeheiratet hatte. In seinem neuen, industriell geprägten familiären Umfeld kam er bald zur Überzeugung, dass die Textilbranche mehr Zukunft hätte als der Champagner. Über seine Reimser Bank stellte er der Esslinger Firma das Startkapital bereit und beschaffte ihr zudem die modernsten Maschinen aus dem industriell damals viel weiter entwickelten Frankreich.

Das Engagement wurde von Madame Clicquot, deren Vater Nicolas Ponsardin ebenfalls einer der Textilbarone Frankreichs war, mitgetragen. Mitte 1823 beehrte sie die Manufaktur sogar mit einem Besuch, wie aus einer archivierten Notiz hervorgeht: „Madame Clicquot-Ponsardin befindet sich derzeit auf Reisen in Deutschland. Sie wird begleitet von (...) ihrem Teilhaber Herrn Kessler-Jobert mit seiner Frau. Sie werden gebeten, Post an Madame Clicquot (…) an C. L. Hübler in Esslingen zu senden.” Zweieinhalb Jahre später, so erfährt man aus Briefen von Keßler, Hübler & Comp. an Madame Clicquot, war nicht nur das Esslinger Unternehmen, sondern auch das Verhältnis zwischen Georges Kessler und Barbe Nicole Clicquot in schwere Turbulenzen geraten.

Kessler, der sich zunehmend vor Ort in Esslingen aufhielt, reiste am 14. Januar 1826 zum Gedenkgottesdienst für seine im Februar des Vorjahres verstorbene erste Frau Clémence Kessler-Jobert an, musste aber eiligst wieder zurück - um am 23. Januar 1826 in Stuttgart mit seiner zweiten Frau Auguste von Vellnagel vor den Traualtar zu treten. Die unter Zeitdruck geführten Gespräche in Reims verliefen nicht gut. Barbe Nicole Clicquot eröffnete ihrem Kompagnon, dass sie das Risiko in Esslingen nicht weiter mittragen wolle. Mit 600 000 Francs - etwa 4,2 Millionen Euro - hätten die vom Bankhaus gewährten Darlehen eine unverantwortliche Größenordnung erreicht, weitere Vorschüsse kämen nicht mehr in Frage.

Georges Kessler hielt dagegen, dass das Bankhaus zu einem Drittel an der Firma beteiligt und vertraglich zur Finanzierung verpflichtet sei. Einer Liquidation würde er niemals zustimmen, und wegen der zu erwartenden Schadenersatzforderungen käme sie der Bank außerdem sehr teuer zu stehen. Und schließlich sei er laut Gesellschaftsvertrag ausdrücklich ermächtigt, die Bank an derartigen Unternehmungen zu beteiligen. Beide Seiten hatten sich auf unversöhnliche Standpunkte versteift; die fast 20 Jahre dauernde vertrauensvolle Partnerschaft war auf einem Tiefpunkt angekommen.

Wieder in der Heimat, klärte Georges Kessler Bruder Heinrich und Schwager Hübler über die bedrohliche Lage auf. Daraufhin schrieben die Esslinger mit Datum vom 4. Februar 1826 nach Reims: „Madame! Ihr Associé, Hr. G. C. Keßler, hat uns eröffnet, daß Sie den Gesellschaftsvertrag, welchen er im Namen Ihres Bankhauses zu Rheims, mit uns eingegangen ist, in so fern umzustoßen gesonnen sind, als Sie nicht nur Ihre Einwilligung zu jedem ferneren Vorschuß [… wiederholt verweigert hätten, sondern auch von den bisher geleisteten Zahlungen Ihrer Bank dasjenige zurück verlangten, was über den Betrag von Fr. 600 000 gehe.“ Mit dem Hinweis darauf, dass die Bank sich verpflichtet habe, „alle nöthigen Fonds“ einzuschießen, wurden rechtliche Schritte angedroht: „(…) bleibt uns nichts übrig als unser Recht, das unzweifelhaft ist, zu wahren, und, da wir unter diesen Umständen nicht fortarbeiten können, Ihnen dieses (...) durch die kompetente Behörde in Rheims gerichtlich infirmieren zu lassen.“

Böse Töne! Als Kessler dann noch erfuhr, dass seine Partnerin die Kredite bei der Hofbank in Stuttgart hinter seinem Rücken bereits hatte sperren lassen, wusste er, dass der Konflikt jetzt nur durch eine radikale Lösung beendet werden konnte. Im Brief vom 21. März 1826, bei dem Georges Kessler mit Sicherheit federführend war, schlugen die Esslinger Gesellschafter vor, die jetzige Firma Keßler, Hübler & Comp. aufzulösen und durch eine Kommanditgesellschaft auf Aktien zu ersetzen, die unter der neuen Firmierung Keßler & Cie und mit dem Bankhaus Veuve Clicquot-Ponsardin & Cie als Hauptaktionär fortgeführt werden sollte. Heinrich Kessler und Christoph Ludwig Hübler erklärten sich zudem bereit, auf ihr jeweiliges Drittel zu verzichten. Durch diese Konstruktion sollte das Firmenkapital für externe Geldgeber geöffnet werden, ohne die Kontrolle über das Unternehmen zu verlieren.

Im letzten Paragraphen des Vertragsentwurfs wurde festgelegt, von wem diese Kontrolle ausgeübt werden sollte: „Das Haus Ve. C. P. & Cie (Veuve Clicquot-Ponsardin & Cie) ernennt zu seinem Stellvertreter bei dem Hause Keßler & Cie seinen Associé G. C. Keßler auf Lebenszeit. Dieser wird (…) zur Auflösung der bisherigen und zur Bildung einer neuen Gesellschaft für das Esslinger Manufaktur-Geschäft sich mit den dazu geeigneten Personen verabreden und gültig beschließen, ohne daß es einer weiteren Genehmigung von Seiten seines Rheimser Hauses bedürfte.“ Mit anderen Worten: Georg Christian Kessler, der den Vertragsentwurf „für mein Haus Vve. Clicquot-Ponsardin & Cie“ unterzeichnete, ernannte sich hier selbst zum Alleinbevollmächtigten. Mit einer solchen Vertragsklausel schuf er eine prekäre Lage. Nicht nur verpflichtete er „seine“ Bank in Reims, das Unternehmen als beherrschender Aktionär fortzuführen, er legte auch fest, dass alle Entscheidungen ausschließlich von ihm selbst getroffen werden - und zwar bis an sein Lebensende. Als mit allen Vollmachten ausgestatteter Vertreter des Komplementärs für das wirtschaftliche Wohlergehen der Manufaktur in Esslingen verantwortlich, hätte er sich als Chef des Bankhauses in Reims kaum weigern können, die von der eigenen Filiale jeweils benötigten Kredite auszulegen.

Zu einem so weitgehenden Engagement war er durchaus befugt. Als Teilhaber und alleiniger Geschäftsführer der beiden Reimser Gesellschaften konnte er nach Belieben schalten und walten. Aber es war ihm natürlich bewusst, dass seine Partnerin damit nicht glücklich sein konnte. Man könnte meinen, mit dieser extravaganten Vertragsklausel habe er die Sache auf die Spitze treiben und eine solide Lösung zugunsten des Esslinger Unternehmens erzwingen wollen. Barbe Nicole Clicquot und Georges Kessler konnten sich in der Tat nicht mehr einigen und beschlossen deshalb am 22. Mai 1826 die Trennung. Kessler verzichtete auf seine Geschäftsanteile an Champagnerhaus und Bank und überließ Madame Clicquot auch sein Stadthaus an der Rue de la Chasse, das er ihr sieben Jahre zuvor abgekauft hatte. Dafür wurden ihm die Esslinger Fabrik, das Landgut Neuhof bei Heilbronn sowie eine Abfindung in Höhe von 100000 - etwa eine Dreiviertelmillion Euro - zugestanden.

Als vermögender Mann nach Deutschland zurückgekehrt, führte Kessler das Unternehmen nun als alleiniger Eigentümer fort. Sein soeben angeheirateter Schwiegervater, der württembergische Staatsminister Christoph von Vellnagel, organisierte noch im Mai 1826 eine königliche Inspektion der damals fortschrittlichsten Textilmanufaktur des Landes. Wohlwollend stellte König Wilhelm I. „das kräftige Bestreben zur Vervollkommnung und zur Belebung dieses Zweiges des vaterländischen Gewerbefleißes“ fest.

Doch Georg Christian Kessler wandte sich bald wieder seiner alten Leidenschaft zu, der Herstellung von Champagner. Davon verstand er eben doch am meisten. Er verpachtete - und verkaufte später- seine Textilfabrik, die sich nach dem Einstieg von Johannes Merkel und Ludwig Kienlin zu einem der größten Gewerbebetriebe Württembergs entwickelte. Und am 1. Juli 1826 - gestern vor 190 Jahren - gründete er die heute älteste Sektkellerei Deutschlands.

Dieser Text ist die überarbeite Fassung eines Abschnittes aus dem Buch „Die zwei Leben des Georg Christian Kessler“ von Rulf Neigenfind, erschienen 2012 bei LaneBooks Paris und erhältlich beim Bechtle-Buchverlag Esslingen. Im Anhang sind zahlreiche übersetzte Quellen abgedruckt.