Die 2,34 Meter große Mrs. Nana (Gordon Leif) und ihr Ensemble: Die große Dame bekommt die Rollschuhe angezogen. Foto: Alexandra Klein Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier

Stuttgart - Sie misst stolze 2,35 Meter vom Scheitel bis zu den Plateausohlen, ihre Lebensgeschichte klingt fast zu schön, um wirklich wahr zu sein, und wer ihr begegnet, spürt sofort, dass Mrs. Nana eine Dame durch und durch ist: Aus altem russischem Adel soll sie stammen, die Welt hat sie bereist, und unterwegs schloss sie Freundschaft mit Menschen, die man genau wie sie nur als Paradiesvögel bezeichnen kann. Einige ihrer schillerndsten Freunde trifft Mrs. Nana während der kommenden Wochen regelmäßig auf der Bühne des Stuttgarter Friedrichsbau-Varietés. Und weil jeder aus dieser exzentrischen Truppe gerne zeigt, was er oder sie kann, hat Hausregisseur Ralph Sun daraus ein neues, faszinierendes Programm komponiert, mit dem er einmal mehr beweist, dass Varieté immer wieder neu und immer wieder überraschend ist.

Wer Ralph Sun und seine Friedrichsbau-Programme kennt, der weiß, dass der künstlerische Leiter des Kleinkunst-Tempels auf dem Stuttgarter Pragsattel stets für Überraschungen gut ist. Jedes Mal verblüfft er sein Publikum mit neuen, reizvollen Attraktionen. Und selbst wenn man manchen Künstler zu kennen glaubt, kann man sich nie sicher sein, dass er nicht plötzlich ganz andere Seiten zeigt. So wie der Berliner Gordon Leif, der mit dem Duo Strahlemann & Söhne wiederholt im Friedrichsbau zu Gast war. Leif gehört zu den vielseitigsten Vertretern seiner Zunft: Er ist Artist, Puppenspieler und Choreograf und hat eine alte Gauklertradition neu belebt: die große Kunst der Nanaischen Spiele.

Strahlender Mittelpunkt

Aus Ostsibirien soll diese unkonventionelle Form des Figurentanzes kommen, und was ihn daran reizt, beschreibt Gordon Leif so: „Puppen jeglicher Art zum Leben zu erwecken, ihnen Hände, Füße und Charaktere zu geben, welche Rhythmus, Dynamik und Ausdruck erlauben, ist eine meiner leidenschaftlichen Herausforderungen. Diese Illusionen durch die Symbiose vom eigenen Körper mit denen der Puppen zu erschaffen, ist ein wenig wie Magie. Es ist Freude, Überraschung und Entertainment für Groß und Klein.“ Und vor allem sind die Nanaischen Spiele etwas, das man auch nur selten auf der Bühne sieht.

Jene Mrs. Nana hat Ralph Sun zum strahlenden Mittelpunkt einer Friedrichsbau-Show gemacht, wie man sie nicht alle Tage erlebt. Denn so außergewöhnlich wie die Gastgeberin sind auch ihre Gäste: In ihrer plüschigen Galerie hält die exzentrische Grande Dame der zirzensischen Lustbarkeiten Hof. Ungeniert pflegt sie ihre kleinen Schrullen, und wenn sie ihren Blick über die Porträts ihrer alten Freunde, die dicht an dicht an der Wand hängen, schweifen lässt, werden viele ihrer Weggefährten mit ihren schönsten Varieté-Nummern wieder lebendig.

Dass die verschiedenen Rädchen mit jeder Minute immer besser ineinander greifen, ist nur möglich, weil jeder der Akteure ein absoluter Könner ist. So wie der Zauberkünstler Ully Loup, der in Frack und Zylinder den Magier Friedrich Fusel Wunderbecher gibt. Er liest Gedanken, verblüfft mit kleinen Taschenspielertricks und plaudert mit trockenem Humor und sanfter Ironie so unterhaltsam drauflos, dass er für Mrs. Nana viel mehr als nur ein Side-kick ist.

Tiere gehorchen aufs Wort

Und ganz egal, ob er drei Ringe, die er sich beim Publikum geborgt hat, ineinander verknotet oder ob er auf Wunsch die unterschiedlichsten Getränke aus klarem Wasser ins Glas zaubert - was Ully Loop mit leichter Hand und und wohl dosierter Ironie präsentiert, ist verblüffend. Und er ist nicht der Einzige, der die Zuschauer an diesem Abend buchstäblich verzaubert: Gwenaelle, eine Zauberkünstlerin aus der Bretagne, beschwört mit Perfektion und einem Augenzwinkern die Leichtigkeit des Seins, ganz egal, ob sie Spielkarten oder Schmetterlinge durch die Luft fliegen lässt.

Tierdressuren sind manchmal so eine Sache: Nicht alles, was gut gemeint ist, ist auch wirklich gut gemacht. Doch Rodrique Funke beherrscht sein Handwerk. Ob Ratten, Tauben oder Foxterrier - alle gehorchen ihm aufs Wort. Und mit seinem Charme wickelt der smarte Artist nicht nur die überspannte Mrs. Nana um den Finger, sondern auch das geneigte Publikum. Wer ins Friedrichsbau-Varieté kommt, kann ihnen bereits im Foyer begegnen: Edd und Lefou, ein Komiker-Duo aus Berlin, mimt in dieser Show das Sicherheitspersonal. Und egal, ob die beiden schon am Eingang ihre Späße mit den Zuschauern treiben oder auf der Bühne einen Show-Boxkampf in Zeitlupe aufführen - man könnte sich über die beiden kringelig lachen.

Alte Kunst neu interpretiert

Luftakrobatik am Vertikaltuch ist eine ziemlich kraftraubende Angelegenheit. Wenn Jenny Thiem in schwindelnder Höh’ ihre Kunst zeigt, wirkt das so selbstverständlich und leicht, dass die Künstlerin nebenbei sogar noch genügend Puste hat, um ihre gesangliche Finesse unter Beweis zu stellen. Mit Emiria Snyman stellt sich eine Artistin vor, die die Kunst der Kontorsion per-fekt beherrscht - wenn sie ihren Körper grazil verrenkt, als wäre er aus Gummi, hält man unwillkürlich den Atem an, weil man kaum glauben kann, welche Verrenkungen menschenmöglich sind. Und weil ein Varieté-Programm ohne einen Jongleur nicht komplett wäre, darf mit Stanislav Vysotsky ein Artist den Schlusspunkt setzen, der die Bälle mit Händen und Füßen fließen lässt und der mit seiner Inszenierung zeigt, dass man auch eine alte Kunst immer wieder neu interpretieren kann.

Jeder dieser Künstler ist eine Klasse für sich, und alle zusammen fügen sie sich zu einem wunderbar harmonierenden Ensemble, das aus den unterschiedlichsten Darbietungen ein Gesamtkunstwerk werden lässt. Wo andere oft wochenlang proben, müssen im Friedrichsbau wenige Tage der Vorbereitung genügen - den allerletzten Schliff gibt es dann in den Vorstellungen auf der Bühne. Man kann nur staunen, wie rasch diese erst vor wenigen Tagen zusammengewürfelte Artistentruppe binnen kürzester Zeit zu einem stimmigen Ganzen zusammengewachsen ist. Doch in der Wunderwelt des Varietés ist ja bekanntlich alles möglich.