Von Thomas Krazeisen

Esslingen - Von seiner Sorte scheint es nicht mehr viele Exemplare zu geben. Mendel Singer, Joseph Roths Prototyp „eines ganz alltäglichen Juden“ in dem Roman „Hiob“, wirkt wie ein anachronistisches Relikt einer orthodoxen Parallelwelt: Protagonist eines ziemlich gestrigen Geschichtskinos, das zugleich erschreckend aktuell anmutende Bilder produziert - wenn etwa der Familienpatriarch mit einem Machtwort die dringend nötige medizinische Behandlung des behinderten jüngsten Sohnes verweigert. „Kein Doktor kann ihn gesund machen, wenn Gott es nicht will“, herrscht er auf der Bühne des Esslinger Schauspielhauses seine Frau an. Dort hatte jetzt der 1930 erschienene Roman in der Theaterbearbeitung von Koen Tachelet und einer Inszenierung von Christof Küster Premiere.

Düstere Hermetik

Roths Hiob lebt zusammen mit seiner Frau und den gemeinsamen vier Kindern in der südrussischen Provinz. Im Dorf Zuchnow ist er Thora-Lehrer - so wie es schon sein Vater und sein Großvater waren. Was die Zahl seiner Nachkommen und materiellen Güter anbelangt, ist er nicht so reich gesegnet wie sein biblisches Pendant. Doch der kleine Lehrer aus Ostgalizien wird vom Allmächtigen nicht minder gewaltig geprüft und geschlagen wie sein großes alttestamentarisches Alter Ego. Der fromme Mendel verliert fast alles, was ihm heilig ist. Zwei seiner Söhne sterben im Krieg, das Weib durch Gram, die Tochter verfällt dem Wahnsinn. Und dann ist da noch der Nachgeborene. Menuchim. Die grimassierende Missgeburt. Ein Anblick zum Gotterbarmen, wie sich der Epileptiker im Esslinger Schauspielhaus unbeholfen am Boden windet und in ein Mikrophon röchelt und keucht. Seine Lieben scheint seine stumm zuckende Pein nicht weiter zu jucken. Mit wippenden Beinen sitzen die drei Geschwister an der Rampe. Kollektiv kichernde Teilnahmslosigkeit, bis der Arzt kommt. „Er stöhnt wie ein Tier“. Empathischeres fällt ihnen nicht ein.

Mitgefühl klingt anders, und doch trifft Koen Tachelet in seiner saft- und kraftvoll skelettierten Romanadaption mit solchen lakonischen Gefühllosigkeiten exakt jenen dunklen, dumpfen, gnadenlosen Unterton, der dieses von Joseph Roth mit so viel Sinnlichkeit, Leichtigkeit und Poesie instrumentierte Werk durchzieht. Und auch sie, die zarten, süßen und heiter melancholischen Klänge brennender Sehnsucht, leuchtender Hoffnung und milder Erinnerung, gibt es in Küsters sehenswerter Inszenierung zu entdecken.

Der Regisseur hat genau hineingehorcht in Roths virtuos komponierten Resonanzraum menschlicher Schicksale und ihm eindringliche Bilder abgelauscht. Es ist ein anspruchsvoller, manchmal beklemmender, oft berührender und mit zweidreiviertel Stunden ein langer, aber keine Sekunde langweiliger Theaterabend. Einmal weil Küster es geschafft hat, die von den sprichwörtlichen Hiobsbotschaften heimgesuchte Sozietät aus dem religiös-kulturellen Schtetl-Muff längst vergangener Zeiten herauszuholen und das existenzielle Potenzial der Hiob-Erzählung als zeitlose Parabel auf elementare menschlich-zwischenmenschliche Fragen mit ebenso einfachen wie effizienten Erzähltheatermitteln freizulegen. Und weil diese von einem großartigen WLB-Ensemble in allen Lebenstonlagen mühelos beherrscht werden. „Im Anfang war das Wort“, zitiert Mendel aus der Bibel - hier vermag das Dichterwort bis zum letzten Satz, als der weitgereiste Titelheld am Ende seiner Gottes- und Selbstfindungsodyssee endlich lächelnd die Welt zu begrüßen imstande ist, starke Bilder vor einer denkbar tristen Kulisse zu evozieren.

Marion Eisele hat auf der nach hinten abfallender Bühne minimalistisch eine trichterförmige Beton-Hermetik aus hohen, verschiebbaren Wänden mit unterschiedlich großen Durchlässen geschaffen. Diese monumental wirkende Konstruktion lässt genauso gut an ein Ghetto oder Mausoleum denken wie an die Klagemauer, an den Libeskind’schen Jüdischen Museumsbau oder moderne Hochhausarchitektur. In dieses assoziationsreiche Grau-in-Grau-Setting, in dem ein einsames Olivenbäumchen trotzig vor sich hin grünt, hat Küster die zunehmend entwurzelten und desillusionierten Freiheits- und Wohlstandsträumer hineinverpflanzt.

Die junge Generation zieht es mit Macht hinaus in die Welt: Jonas (Benjamin Janssen), der Älteste, will unbedingt zum Militär, Bruder Schemarjah (Christian A. Koch) sucht - mit Hilfe seines amerikanischen Freundes und Geschäftspartners Mac (Ulf Deutscher) - sein Heil im Kapitalismus, die lustgeplagte Schwester Mirjam (Sofie Alice Miller) in erotischen Abenteuern mit Kosaken.

Doch der Freiheitstraum endet in einem Totentanz, dem Küster in seiner Inszenierung unvermutete Leichtigkeit einhaucht. Schon am Anfang, noch vor dem ersten Wort, als Mendel und seine Familie im Rhythmus der Klezmer-Klänge verhalten zu tänzeln beginnen: ein beschwingter Moment chassidischer Liberalität, der sogleich von der Rohheit der drei älteren Geschwister gegenüber ihrem Brüderchen eingefangen wird, als sie den hilflosen Knaben durch eine der in die Betonwand eingelassenen Luken entsorgen.

Doch der todgeweihte und lange Zeit totgeglaubte Krüppel, der im Finale wie durch ein Wunder kerngesund und beruflich höchst erfolgreich als Musiker bei seiner emigrierten Familie in den USA auftaucht, ist robuster als gedacht. Sekunden später reckt sich seine Hand wie in Leonardos ikonischem Bild durch ein Wandloch - nur dass sie hier kein gütiger Gott ergreift.

In einer anderen Szene, als Mendel - jetzt schon mit Frau und Tochter beim desertierten Sohn in Amerika - buchstäblich am Boden zerstört mit seiner Entscheidung hadert, seinen behinderten Jüngsten zuhause in Russland gelassen zu haben, sieht man plötzlich unter ihm Menuchim (Marcus Michalski), der sich hinter der milchigen Frontwand wie ein Wurm durchs kühle Erdreich gräbt.

Requiem eines Untoten

Auch das Requiem eines Untoten auf seine verstorbene Frau ist von Küster ergreifend choreographiert: Da sitzt der rechtschaffene, aber rigide Familienvater (überzeugend in Starrheit und Anfechtung wie in der Liebe zu seinem Jüngsten: Reinhold Ohngemach), der seine älteren Kinder noch mit dem Gürtel züchtigte und seiner Frau Deborah (Gesine Hannemann) die Wahrheit über ihre verblasste Schönheit ungeschminkt ins Gesicht sagte, ihr in einem Augenblick der Nähe endlich einmal zugewandt gegenüber. Hält, was er zu ihren Lebzeiten lange nicht mehr tat, zärtlich ihre Hände. Hätte er das doch schon früher viel öfter getan.

Die nächsten Vorstellungen: 7., 12., 17. Dezember, 20. Januar, 10. Februar.