Die französische Tänzerin Sylvie Guillem bei ihrer Performance beim „Castillo de Peralada“-Festival. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Wie immer weit gestreut liegen die Voten bei der alljährlichen Kritikerumfrage der Zeitschrift „tanz“, stammen die 42 Tanzspezialisten doch aus verschiedenen Ländern und verschiedenen Fachrichtungen von klassisch bis zeitgenössisch. Zur besten Produktion der Spielzeit 2015/16 wurde „Until the Lions“ des Londoner Choreografen Akram Khan gewählt, eine bildgewaltige Geschichte aus dem indischen Epos Mahabharata über starke Frauen, stilistisch beeinflusst von der indischen Tanzkunst Kathak. Als Tänzerin des Jahres wurde zum wiederholten Male die französische Ballerina Sylvie Guillem ausgezeichnet, die sich mit 50 Jahren von der Bühne verabschiedete und auf eine wahrhaft vollendete Bühnenkarriere zurückblicken kann, die sich von einer unglaublich virtuosen Körperbeherrschung in den Klassikern über die Zusammenarbeit mit sämtlichen großen Choreografen ihrer Epoche bis zu ausgesuchten persönlichen Programmen spannte. „Mademoiselle Non“, wie sie zu Anfang genannt wurde, war während ihrer ganzen Karriere ein unabhängiger, freier Geist. Das kann man von Steven McRae kaum sagen, dem ebenfalls rothaarigen Tänzer des Jahres vom Londoner Royal Ballet: Der Australier glänzt vor allem durch eine rasante Virtuosität.

Choreografen des Jahres wurden die belgische Ikone Anne Teresa De Keersmaeker, auch sie zum wiederholten Male, und der beim American Ballet Theatre festangestellte Russe Alexei Ratmansky, der vor allem durch seine „Schwanensee“-Rekonstruktion für das Zürcher Ballett Punkte sammelte. International gilt er derzeit als der begehrteste klassische Choreograf, in Deutschland hat er unter anderem beim Dresdner Semperoper-Ballett und in München gearbeitet.

Das Bayerische Staatsballett wurde zur Kompanie des Jahres gewählt, gewissermaßen zum Abschied von der großartigen Repertoirepolitik, die dort in der zu Ende gegangenen Ära Ivan Liskas gepflegt wurde. Die zuletzt recht mittelprächtige tänzerische Qualität stand bei der Wahl sicher nicht im Mittelpunkt - diese versucht der neue Münchner Ballettdirektor Igor Zelensky gerade zu ändern und bekam für die Art und Weise seines recht brachialen Vorgehens vier Erwähnungen in der „Ärgerlich“-Sparte. Das dürfte ein Rekord sein für jemand, der noch gar nicht im Amt ist.

Von den Mitgliedern des Stuttgarter Balletts erhielten Dauerabonnent Friedemann Vogel, Daniel Camargo und Constantine Allen je eine Nominierung als beste Tänzer, außerdem Rosaria Guerra von Gauthier Dance in „Nijinsky“. Auch der Stuttgarter Choreograf Marco Goecke wird gleich in mehreren Kategorien positiv erwähnt. Unter der Rubrik „Erfreulich“ wird zweimal das neue Stuttgarter Tanzfestival „Colours“ genannt, außerdem der reibungslose Intendantenwechsel beim Stuttgarter Ballett und der fortschreitende Bau der Cranko-Schule.

Negativ fiel die fehlende Spielstätte der freien Szene in Stuttgart auf. Auch die Kompanien in Mannheim und Karlsruhe wurden positiv erwähnt. Passend zur Flüchtlingsthematik handeln die Aufsätze und Porträts des Jahrbuchs von Grenzen und ihrer Überschreitung.