Von Dietrich Heißenbüttel

Stuttgart- Beim Festival „Sommer in Stuttgart“ erschien am Samstag eine überschaubare Zuhörerschar im Theaterhaus. Dabei war das Programm des Ensembles Ascolta durchaus zugänglich. Es begann mit einem Ricercare aus dem „Musikalischen Opfer“ von Johann Sebastian Bach, neu arrangiert vom Posaunisten Andrew Digby. Die sechs Melodielinien sprangen von einem Instrument zum anderen - ein irritierendes Hörerlebnis. Mit dem Begriff Ricercare - eine Vorform der Fuge - spielt auch Jonathan Harvey, der in „Ricercare una melodia“ (wörtlich: eine Melodie suchen) die Trompetenstimme im elektronischen Kanon verfünffacht, im zweiten Teil schrittweise verlangsamt, bis schließlich ein flottes Solo über tiefen Pedaltönen übrigbleibt.

Es ging um Traditionsbezüge. In Alvin Luciers „Nothing is real“ spielt der Pianist nichts als die Melodie des Beatles-Songs „Strawberry Fields Forever“ - abwechselnd in allen Lagen. Dabei hält er das Pedal gedrückt, so dass Akkorde und Schwebungen irisierend im Raum stehenbleiben. Im zweiten Teil ertönt alles noch einmal aus dem Lautsprecher, zuerst nur ganz zart, bis der Pianist den Deckel einer Teekanne anhebt, aus der dann wie der Geist aus der Flasche die Obertöne hervorquellen.

Gegenüber solch minimalistischen Spielen gestalteten sich zwei Uraufführungen jüngerer Komponisten komplexer: In Micha Seidenbergs „Phrén“ waren Vibraphon und Marimbaphon mit schnellen Läufen stark gefordert, während der Rest des Ensembles Akzente setzte. Dass für den Komponisten das italienische Trecento der Ausgangspunkt war, erschließt sich nicht beim ersten Anhören. Maxim Kolomiiets wiederum bezieht sich auf Robert Schumanns „Am leuchtenden Sommermorgen.“ Die Melodie ist bestenfalls zu erahnen, aber darauf kommt es nicht an, vielmehr will der Komponist die Isolation Schumanns am Ende seines Lebens sinnfällig machen. Die Trompete wiederholt einen einzelnen Ton, dann das ganze Ensemble. Abwechselnd werfen Digby rechts und Florian Hölscher links einen in einzelne Silben zerlegten Text dazwischen.

Bach-Musik mit absurden Griffen

Ähnlich wie Digby lässt Simon Steen-Andersen Bachs „Cappriccio in B“ eigentlich unverändert, stellt dabei jedoch alles auf den Kopf. Die Gitarrensaiten sind über dem Schallloch abgedämpft: Der Resonanzkörper verliert seine Funktion. Nur ganz leise ertönen die Saitenabschnitte zwischen greifendem Finger und Wirbelkasten. Da aber die Bünde dafür nicht gesetzt sind, klingt es immer etwas schräg, leicht verzögert zudem, weil der Gitarrist Hubert Steiner absurde Griffe ausführen muss, um auf diese Weise Bach spielen zu können.

Gordon Kampes „Moritaten und Sentimentales“ sind dem Titel zum Trotz Instrumentalstücke, die so herrliche Titel tragen wie „Das Lied über einen Komponisten, der auf der Suche nach einem Adorno-Band vom Billy-Regal erschlagen wurde.“ Das ist wiederum dem klanglichen Resultat nicht anzuhören, gleichwohl beginnt das Werk in schwungvoller Dichte, rhythmisch prägnant und variationsreich, um nach sieben Sätzen ohne Längen sachte zu einem Ruhepunkt zu finden.

Wie schon der Schriftsteller Michael Lentz war auch Sergej Newski Stipendiat der Villa Aurora in Los Angeles, in der einst Lion Feuchtwanger wohnte. Lentz hat daraus den Roman „Pazifik Exil“ gemacht, den Newski nun vertont hat. In Feuchtwangers Villa kreuzen sich die Wege von Bertolt Brecht, Arnold Schönberg, Heinrich und Thomas Mann, Franz Werfel und Alma Mahler. In der szenischen Uraufführung sitzen die sechs Neuen Vocalsolisten in leichtem Halbrund an Tischen, rascheln mit Papier, spitzen Bleistifte, tippen in die Schreibmaschine und drücken Stempel: ein Bild der Bürokratie vor sieben an der Wand hängenden Stoffbahnen, die an Fahnen oder die Mauern dazwischen an die Pfeiler des Reichsparteitagsgeländes erinnern. Listen werden geführt auf dem ganzen Globus: „Ab jetzt ist denken, reden und schreiben eine große Gefahr.“

Das Ende bleibt offen

Newski macht nicht den Fehler, die Stimmen jeweils einem bestimmten Sänger in den Mund zu legen. „Sie starren mich an wie ein Relikt einer untergegangenen Epoche“, sagt etwa Andreas Fischer, der sicher nicht aussieht wie Arnold Schönberg, ihn nur zitiert. Newski verflicht gesprochene Texte, Sprechgesang und schwankende Melodielinien zu wechselnden Klangbildern, während in Zwischenspielen der Berliner Elektroniker Paul Frick die Klänge neu mischt und aufbereitet. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Aussagen ohne den hintergründigen Humor des Komponisten, der in der Ernsthaftigkeit des Vortrags manchmal unterzugehen droht, zum Lamentieren tendieren. Am Ende tritt der Schalk jedoch deutlich hervor. „Ich habe die Gänse gegen die Pelikane getauscht, den Ammersee gegen den Pazifik. Und mein Leben …“, sagt der fiktive Feuchtwanger. Das Ende bleibt offen.