Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Man weiß nicht, wer hier der Star des Abends ist: der kregle, bestens aufgelegte Schriftsteller, der morgen seinen 90. Geburtstag feiert, oder diese prächtigen 25 Bücher im blauorange geflammten Einband, die vor ihm aufgereiht fast zwei Tischlängen einnehmen. „Nur unter Androhung von Gewalt“, so Martin Walsers Freund und Verleger Heribert Tenschert, habe man sie gestern dem Drucker entwenden können, so brandneu ist die Werkausgabe Walsers, die im Stuttgarter Literaturhaus mit einem „literarischen Lesespiel“ vorgestellt wurde, schlagfertig moderiert von Denis Scheck.

Es war bei aller Ehrung ein höchst unterhaltsamer Abend, der weißweinbeseelt auf den scharfkantigen Formulierungen dreier Ironiker dahintänzelte anstatt in Jubilaren-Pathos zu versinken. In seinem alemannisch getönten Bodensee-Dialekt gab Walser kurze, treffliche Anekdoten über seine Verleger Siegfried Unseld oder Peter Suhrkamp zum Besten, über das Studium in Tübingen und alte Südfunk-Tage in Stuttgart, als er „Die klingende Wochenschau“ betreute und Singspiele verfasste - ein Couplet daraus sang er gleich vor.

„Als Autor ist man naturbescheiden und nimmt das Gedruckte in jeder Form“, sprach er mit hübschem Understatement in Richtung der Werkausgabe, aber Walser ist sichtlich stolz auf die feinen Bände. Gar nicht blöd, wenn man im E-Book-Zeitalter „einen der berühmtesten Antiquare der Welt“ zum Freund hat, wie Denis Scheck den Besitzer der Bibermühle am Ufer des Bodensees vorstellte. Papier, Satz, Schrift und Größe der Bände, alles hat Heribert Tenschert ausgesucht, das marmorierte Einbandpapier entspricht einem Muster, das 1914 beim Hyperionverlag für Goethes „Faust“ und Dantes „Göttliche Komödie“ verwendet wurde: „Aha, auf dieser Flughöhe befindet sich Martin Walser nun also“, frotzelte der Moderator. Herausgeber der Bücherschönheit ist der Wuppertaler Professor Andreas Meier, der einen kompletten Band voller Anmerkungen, Register und Editionsberichte verfasst hat.

Auf die Frage, was denn eine Freundschaft mit Walser kennzeichne, äußerte Tenschert, der unbedingt einen eigenen Abend wert wäre, rasch und trocken nur ein Wort: „Unterwerfung.“ Und setzte nach einer wirkungsvollen Pause hinzu: „Nein, auch Versklavung.“ Pointen gab es reichlich an diesem Abend, vorwitzige und hintersinnige. Walser mag ein schwieriger Freund sein, wie sehr er aber kluge Dialogpartner schätzt, wurde ganz nebenbei in zwei traumschön formulierten Sätzen deutlich, die er dem verstorbenen Schweizer Germanisten und Politiker Ernst Mühlemann widmete.

Das Lesespiel war als „Werkbegehung mit Zufallselementen“ oder auch „Bibelstechen mit Martin Walser“ konzipiert, wie Scheck es formulierte. „Band sieben, Seite 77“, rief es aus dem Publikum - und wir landeten im Roman „Ohne einander“ von 1993, und zwar am Schilf im Starnberger See, mitten in einer mild-offenherzigen Szene mit nackten Brüsten. Von der Frage, ob Sexszenen besonders anfällig für Kitsch sind, ging es direkt zum Schwimmer, Skifahrer und begeisterten Sportler Walser. Man erfuhr, dass seine Abschlussarbeit als Gebirgsjäger den schönen Titel „Das Führen von Muli-Kolonnen im Hochgebirge“ trug; obwohl mit Auszeichnung bestanden, ist sie nicht in der Gesamtausgabe enthalten, dafür seine Doktorarbeit über Franz Kafka.

Was er täglich im geliebten Bodensee mache, sei eigentlich kein echtes Schwimmen, sondern „Boulevard-Schwimmen“, weil er mit jemand anderem unterwegs sei, so Walser. Genau dort überkommt ihn die Inspiration: „Etwas, was man gar nicht sucht, kommt von selbst, wenn man schwimmt“, all die sprechenden Namen seiner Figuren etwa: „Die tauchen aus dem See auf“. Über Zufalls-Stellen aus „Das Einhorn“ oder aus der Kurzprosa kam man aufs Roulettespiel, die Geburt von Tochter Franziska oder den Erstlingsroman „Ehen in Philippsburg“ zu sprechen, der ja tatsächlich die Landeshauptstadt porträtiert: „Ich habe natürlich nicht gewusst, dass es eine Stadt gibt, die tatsächlich Philippsburg heißt! Stuttgart war viel zu nah.“

Vom Moderator auf seine politische Verankerung durch die öffentliche Meinung befragt, die im Lauf von Walsers Leben munter zwischen den Extremen Kommunist und Nationalist schwankte, sprach der Autor: „Ich hab’ mich nie verändert. Ich bin dahin und dorthin geschoben worden.“ Wie gut, dass Denis Scheck seine Worte vom „Walser’schen Wankelmotor“ explizit auf die Formulierungskunst des Schriftstellers bezog. Der als passionierter Spieler schließlich noch von einem nicht unerheblichen Sümmchen berichtete, das er vor zwei Wochen im Samstagslotto gewonnen hat. Martin Walser war an diesem Abend tatsächlich ein Glückskind.