Wie verloren in die Welt geworfen: Birgit Unterweger in einer Szene aus „Chelsea Hotel“. Foto: Bettina Stöß Quelle: Unbekannt

Von Petra Bail

Stuttgart - Hier geht der Punk ab. Das Stuttgarter Kammertheater wird zum hymnischen Konzertsaal. Vorsichtshalber warnen Schilder am Eingang vor Lautstärke. Besorgte Besucher bekommen kostenlose Ohrstöpsel. Einige machen Gebrauch davon, wenn knallige Rockrhythmen live gespielt durch den abgehalfterten Raum peitschen. Das Publikum ist zu Besuch im legendären New Yorker „Chelsea Hotel“, vor allem während der 60er-Jahre berüchtigter Zufluchtsort für Künstler und Musen, Stars und Sternchen der Musik-, Literatur- und Kunstszene. Mythen und abenteuerliche Geschichten um Exzesse und Capricen der berühmten Bewohner lassen diesen Vintage-Hort der Sehnsucht - das Hotel ist seit 2011 geschlossen - bis heute lebendig erscheinen. Er hat Sébastien Jacobi, Max Braun und Hanna Plaß vom Stuttgarter Staatsschauspiel zu einer aufregenden musikalisch-literarischen Zeitreise in die 60er- und 70er-Jahre inspiriert.

Als „Bastion des Surrealen“ beschrieb Arthur Miller, der nach der Trennung von Marilyn Monroe selbst sechs Jahre in Zimmer 711 gewohnt hat, das Haus, das mehr als 100 Jahre als Hotel genutzt wurde. Kuriose Anekdoten geben sich die Klinke in die Hand, wie einst die New Yorker Underground- und Bohemiens-Szene selbst, die dort oft selbstzerstörerisch der Lust, dem Rausch und der Liebe frönte. Leonard Cohen soll sich als Kris Kristofferson ausgegeben haben, um Janis Joplin zu verführen. Das Zusammentreffen besingt er in „Chelsea Hotel #2“ als Blowjob auf seinem ungemachten Nachtlager.

Der Dichter Dylan Thomas hauchte sein Leben nach 18 Whiskeys aus, mit dem Satz „Ich glaube, das ist der Rekord“. Bob Dylan verfasste den Song „Sad Eyed Lady of the Lowlands“. Jack Kerouac hat im Chelsea das Beatnik-Manifest „On the Road“ geschrieben, Stanley Kubrick und Arthur C. Clarke handelten das Drehbuch zu „2001: Odyssee im Weltraum“ ab, William S. Burroughs’ Roman „Naked Lunch“, neben Allen Ginsbergs „Howl“ eines der wichtigsten literarischen Zeugnisse der Beat Generation, entstand dort.

Leben, Leiden, Verdruss

Der Geist der einstigen Bewohner, ihr Leben, Leiden und Verdruss werden in Sébastien Jacobis Regie der mitreißenden Hommage an den nostalgischen Ort spürbar. Eine gruftig geschminkte Hanna Plaß, Marietta Meguid mit Punkfrisur und Birgit Unterweger mit straff sitzender, gestreifter Dandy-Hose spielen und singen wirklich bemerkenswert neben Manuel Harder und Elmar Roloff, denen Cinzia Fossati abenteuerliche Fantasie-Kostüme auf den Leib geschneidert hat: Ledercorsage, Argonautenanzug, Frack und das tolle Outfit für den köstlichen Hummermann. Der Held aus Sam Shepards „Cowboy Mouth“, eine Rockversion von Samuel Becketts „Warten auf Godot“, erscheint leibhaftig in High Heels auf der Bühne. Langsam entledigt sich Harder, die melancholische Ballade von Jobriaths „Space Clown“ singend, der Riesenscheren und der Kopfbedeckung.

Der knackige Live-Sound kommt von Joscha Glass, Johann Polzer sowie Max Braun, der gemeinsam mit Hanna Plaß die musikalische Leitung hat. Gemeinsam haben sie 20 wunderbare Adaptionen für diese vielstimmige Musik-Revue geschaffen - etwa von Walt Whitmans autoerotischem Gedicht „I sing the Body Electric“ zur Musik von Patti Smith, Nicos „Chelsea Girls“, „All Tomorrows Parties“ von Velvet Underground und „Dream Baby Dream“ von Suicide - geschaffen. Die Songs sind das rhythmische Bindeglied zu den Textcollagen, die unter anderem aus Burroughs’ „Nova Express“, Dylan Thomas’ „Der Doktor und die Teufel“ und Whitmanns gigantischem Gedichtzyklus „Grashalme“ stammen. Dieser große amerikanische Dichter aus dem 19. Jahrhundert war ein wichtiger literarischer Anreger der Beat-Generation, deren chaotisch-kreatives und wie verloren in die Welt geworfenes Lebensgefühl dieser Abend trefflich spiegelt.

Sexuelle Eskapaden und zügelloses Berauschen gehörten dazu ebenso wie die existenzialistische Verzweiflung ausgebrannter Künstler, die nächtelang stritten, soffen und rauchten. Der Duft von Marihuana wabert durch die Hotelfluchten bis in die Zuschauerreihen. Für die Punkrock-Queen Patti Smith war das Chelsea ein „Puppenhaus in der Twilight Zone, mit Hunderten von Zimmern, von denen jedes ein eigenes kleines Universum barg“.

Trödel, Sachlichkeit und kein Bett

Bühnenbildner Julian Marbach hat diesem „Universum“ mit einem eklektischen Mix aus Trödel und Sachlichkeit ein bemerkenswertes Gesicht gegeben: Röhrenbildschirme, auf denen Bilder von Marcel Duchamp, Yves Klein und Jackson Pollock flimmern, ein Schreibtisch mit Büchern und Vinyls, verschnörkelte Kronleuchter überm Flügel und eine alte Badewanne - alles in mystischem Halbdunkel, durch das stellenweise mit Taschenlampe navigiert wird. Nirgends übrigens ein Bett. Bloß zum Übernachten ging man nicht ins Chelsea.

Die nächsten Vorstellungen: 27. und 30. September, 1., 3., 5., 6., 19., 20., 24. und 26. Oktober, 30. November.