Von Martin Mezger

Stuttgart - Dass auch das Schöne sterben muss, aber in der verklärenden Klage weiterlebt: Klar fühlt sich ein Johannes Brahms davon angesprochen, birgt doch Schillers Gedanke so etwas wie die ästhetische Formel der Musik des Komponisten; dieses Retro-Stils eines melancholisch und resignativ gebrochenen Klassizismus, der in der Trauer über das eigene Vergehen umschlägt in eine völlig neue Musik, eine singuläre Expressivität des Verlusts, die zugleich ein Bewahren des Verlorenen ist. Zu hören in Brahms’ chorischer Vertonung von Schillers „Nänie“ (Trauergesang), einem Gedicht, wo der Dichter sozusagen auf die Hölderlinie einschwenkt: streng antikisierend im ehernen Schicksalsbild, gespickt mit mythologischen Bezügen.

Im Konzert der Stuttgarter Bachakademie im Beethovensaal, das unter dem arg menschelnden Motto „Herzensfeindschaft“ Werke der Antipoden Brahms und Bruckner konfrontierte, lesen sich die Worte vom sterbenden Schönen freilich auch wie ein Unterscheidungsmerkmal. Denn in Bruckners „Te Deum“ ist das Schöne trauerlos gestorben, hinterlässt zwar vereinzelte „schöne Stellen“, weicht ansonsten aber einer ganz anderen Ästhetik. Nur hält es Bachakademie-Chef Hans-Christoph Rademann entschieden mit Brahms - auch bei Bruckner.

Transparenz und Transzendenz

Die „Nänie“ dirigiert Rademann mit weitem Atem, und seine Gaechinger Cantorey singt den Chorpart mit luzider Fülle und dynamischer Elastizität, wunderbare Klarheit und elegische Schönheit verströmend bereits beim ersten, kanonartigen Einsatz, einem Klangbild des Unausweichlichen - und einem quasi die Zeit aufhebenden Vorgriff der finalen Verklärung. Rademann folgt den expressiven Nuancen mit sensiblem Gespür, bindet Transparenz an jene Transzendenz, die gegen Ende in der Rückung von Fis- nach D-Dur zum harmonischen Ereignis wird. Zuvor gelang in Brahms’ „Alt-Rhapsodie“ nach Goethes „Harzreise im Winter“ eine wundersame Balance von individuellem und kollektivem Ausdruck, unforciert schwebte Anke Vondungs Alt-Solo durch die Männerchorstimmen dieser opernnahen Preghiera. Den rezitativischen Beginn zeichnete die Solistin mit konzentrierter Spannung des Leisen, im solistischen Arioso klang ihre Altstimme freilich eher gestählt als intensiv. Welcher Teufel Rademann geritten hat, vor diese beiden tiefendimensionierten Werke ausgerechnet Brahms‘ „Akademische Festouvertüre“ zu stellen, diesen Burschenschaftler-Mumpitz zwischen Heinzelmännchens Wachparade und Bierseidel stemmendem „Gaudeamus igitur“ - das weiß wohl tatsächlich nur der Teufel. Die Deutsche Radio-Philharmonie aus Saarbrücken und Kaiserslautern erwies sich hier (und auch danach) als mittelprächtiges Orchester: zuverlässig, aber manchmal mau in den Streichern, nicht immer präzis in den Bläsern.

Gebremst, beinahe verklemmt

Zum Schluss Bruckners „Te Deum“: ein interpretatorisches Missverständnis. Diese Musik zeugt, bei aller Oberflächen-Katholenmystik, mit ihrem maschinenhaften Streicher-Ostinato und ihren stadiontauglichen Chorblöcken vom heraufziehenden Industrie- und Massenzeitalter. Doch bei Rademann und seinen zaghaften Tempi klingt es so kultiviert, als wär‘s Brahms auf Abwegen. Natürlich ist die Fuge gegen Ende bestens durchhörbar, freilich singt der Tenor Corby Welch schön belcantistische Soli im weitgehend homogenen Solistenquartett (mit Vondung sowie der Sopranistin Johanna Winkel und dem Bass Wilhelm Schwinghammer). Aber es fehlt vollkommen jenes brutalistische Moment eines Unbehagens in der überkommenen Kultur und ihrer Klangwelt, das hier Laut gibt. Und das bereitet ein hörendes Unbehagen eigener Art: Es wirkt - bei aller Fülle des Vollklangs - gebremst, beinahe verklemmt.