Als wollte er sie zurückhalten: Sue Jin Kang in ihrer Abschiedsvorstellung als Tatjana mit Jason Reilly in der Titelrolle von John Crankos „Onegin“. Foto: Stuttgarter Ballett Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Drei Tage lang stand bei der Festwoche des Stuttgarter Balletts die Kernkompetenz im Mittelpunkt: John Cranko, Gründer der Kompanie, Grundstein und bis heute zuverlässigster Kassenfüller des Repertoires. Seine drei großen Handlungsballette aus den 60er-Jahren wurden zum ersten Mal direkt hintereinander gezeigt, ein Anlass auch für den Besuch zahlreicher Tanztouristen aus der ganzen Welt im Stuttgarter Opernhaus. Und sie bekamen Cranko vom Feinsten, von einer Kompanie in Topform, glänzend besetzt bis ins Corps de ballet, bis in die kleinsten Wurzen-Rollen. Von all den Priestern, Wirten, Clowns und Ammen fand keiner seine Rolle zu unwichtig, jeder einzelne Tänzer hatte über den Charakter der Figur nachgedacht. Auch Birgit Keil, früher selbst eine strahlende Julia, die nun als deren strenge Mutter noch einmal auf die Bühne zurückkehrte, wo sie über 30 Jahre lang getanzt hatte. Was für Erinnerungen!

Großartige Partner

An allen drei Abenden stach vor allem das leichte, absolut mühelose Fließen der Pas de deux heraus: Welch großartige Partner sind doch diese Stuttgarter Herren, egal ob in einem seit Jahren blind aufeinander eingestimmten Paar wie bei Alicia Amatriain und Friedemann Vogel in „Romeo und Julia“, oder in „Der Widerspenstigen Zähmung“, die sowohl Constantine Allen wie auch Elisa Badenes kaum drei Mal getanzt haben. Dennoch sahen diese langen, vertrackten Über-Kopf-Hebungen aus, als werfe Petruchio fröhlich ein paar Blümchen durch die Luft. Genau hier liegt übrigens Crankos Kommentar zum angeblichen Gehorsam der Frau, über den bei diesem Stück, egal in welcher Adaption, immer wieder gestritten wird: Der „Bezähmer“ trägt sein Käthchen hier zum Schluss wortwörtlich auf Händen, durch einen langen, verliebten, verspielten Pas de deux. Der große, fesche Allen gab als Petruchio sein Stuttgarter Debüt, mit tollen Sprüngen und noch grandioseren Drehungen. Beim knitzen Humor hapert es noch ein bisschen, da zockte ihn die raffinierte, kluge Badenes als Eben-nicht-zu-Zähmende regelrecht ab. Tanzend erzählte sie, wie eine missverstandene junge Frau sich öffnet und die Welt durch Ironie plötzlich viel leichter nimmt. An beiden Abenden wurde man auf neue Details dieser hundertfach gesehenen Stücke aufmerksam - das schönste Kompliment für die Tänzer.

Der abschließende „Onegin“ war nicht die beste der drei Aufführungen, aber es war der Abschiedsabend Sue Jin Kangs, die ja bereits seit zwei Jahren das Nationalballett ihrer Heimat Korea leitet und nun mit 49 Jahren von der Bühne abtrat. Als einzige Ballerina war sie noch aus Marcia Haydées Zeiten übrig, 30 Jahre lang tanzte sie in Stuttgart, fast 20 davon als Erste Solistin, Reid Anderson hatte sie am Ende seiner ersten Saison als Ballettdirektor befördert. Über viele, viele Jahre war sie Stuttgarts führende Kameliendame und Tatjana, tanzte im Grunde dasselbe Repertoire wie Haydée: die dramatischen Rollen, die Tragödinnen, die Engelsfiguren und Diven, die Geschundenen und Verzeihenden.

Sie stieß in die Lücke, die damals Margaret Illmanns Abgang im Streit hinterließ, wurde zum Traumpaar mit Robert Tewsley, mit Marijn Rademaker, mit Jiří Jelinek, Filip Barankiewicz, Friedemann Vogel oder wie hier mit Jason Reilly. Ohne auch nur ein einziges Jahr sichtbar zu altern, brachte die schöne Asiatin all diesen immer wieder neuen Partnern die Dramatik Crankos nahe: Wie man die Technik vollkommen vergisst, wie man loslässt, um sich rückhaltlos in eine Rolle zu werfen. Alle wuchsen, wenn sie mit ihr tanzten oder sie beobachteten. Mit Crankos Katharina gewann sie an Humor und Weisheit, erweiterte ihr Spektrum zuletzt bis zur Sprechrolle als garstige Madame in „Gaîté Parisienne“.

Letzte Verbindung zu Marcia Haydée

Mit Kang geht auch die letzte Verbindung zu Marcia Haydée, von deren Auftritten sie noch so viel gelernt hat - in zehn Jahren werden die Stuttgarter Tänzerinnen davon schwärmen, dass sie Sue Jin noch in dieser Rolle gesehen und von ihr gelernt haben. Denn was auch deutlich wurde, war die ganz sachte, allmähliche Veränderung, der die Interpretation der Cranko-Werke im Lauf der Jahrzehnte unterliegt: Umwehte Kang noch ein Hauch der Ballettästhetik der 80er-Jahre, der etwas stilisiertere Port de bras, die winzige Spur mehr Pathos und mehr Allüre, so gehen die ganz jungen Tänzer ihre Rollen spontaner, moderner, lakonischer an. Crankos Ballette sind große Kunst, sie halten das aus.

Der Abend wurde zu einer Ballettfeier, wie sie selbst in Stuttgart nur alle zehn Jahre vorkommt, mit Blumenregen von den Rängen und sämtlichen Kollegen für Kang, mit Luftballons und einer Plakat-Choreografie wie im Stadion: „Danke Sue Jin“ stand neben einem großen Herz auf Blättern, die auf jedem Sitz lagen und auf Reid Andersons Kommando in die Luft gereckt wurden. Das Lachen darüber vertrieb die Tränen der Umjubelten - so traurig der Bühnenabschied einer Ballerina ist, so überaus glücklich war und ist Sue Jin Kangs Karriere. Die Stuttgarter klatschten, und die Koreaner filmten. Seit vorgestern dürfte der Tumult minutiös in den sozialen Medien zu finden sein.