Die Lage wird prekär für Anni (Stephanie Biesolt) und Heinz (Benjamin Janssen). Foto: Daniela Aldinger Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Esslingen - Sie will das ungeborene Kind, er nicht, und das gemeinsame Einkommen spricht obendrein eine brutale Logik: Das Kind muss weg. Es ist nicht so, dass man am Hungertuch nagen würde. Aber große Sprünge können die Verkäuferin Anni und der Kraftfahrer Heinz wahrlich nicht machen. Nur kleine. Man leistet sich ein billiges Auto, einen Farbfernseher, träumt von einem Urlaub. Und jetzt ist Anni schwanger, und plötzlich soll man sich gar nichts mehr leisten können? Undenkbar, sagt Heinz. Und dann bekommt er auch noch für drei Monate seinen Führerschein entzogen.

Franz Xaver Kroetz hat mit seinem 1972 uraufgeführten Zwei-Personen-Stück „Oberösterreich“ ein Drama aus dem kleinsten Kleinbürgertum am Rande der Prekarisierung geschrieben, das außer Äußerlichkeiten nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Letztlich geht es um die alte und immerwährende Suche nach dem kleinen, privaten Glück, das sich als Trugbild erweist, wenn es die Verhältnisse nicht zulassen.

Das Thema bleibt, doch von den gewohnten Leit- und Leidlinien des sogenannten Kritischen Volksstück will der Regisseur Markus Bartl gezielt abweichen. Für seine „Oberösterreich“-Inszenierung, die heute an der Esslinger Landesbühne (WLB) Premiere hat, machten er und sein regelmäßiger Bühnenbild-Partner Philipp Kiefer erst einmal Tabula rasa: „Wir haben uns von dem mit einer Aufführungstradition behafteten Realismus komplett verabschiedet und setzen dem unser eigenes, heutiges Realitätsmodell entgegen“, sagt Bartl.

Was jedoch gerade nicht das naheliegende Missverständnis „einer vordergründigen Aktualisierung“ bedeute. Ganz im Gegenteil: Am Text werde nichts geändert, die Inszenierung konzentriere sich auf die Figuren, und die wiederum seien in Kostümen und Requisiten genau auf die 70er-Jahre bezogen; aber „so überhöht, dass sie wie lebende Ausstellungsexponate wirken, dass der Blick wie durch ein Fenster in ein Labor fällt“, erklärt der Regisseur. Ihm geht es um eine Versuchsanordnung aus heutiger Sicht, die den Fokus „klarer auf den Konflikt selbst richten will, statt ihn mit Vorabendserien-Realismus zuzumüllen“.

Heutig daran ist für Bartl ein geradezu experimenteller Zug des Kroetz-Textes, der sich ebenso wie der Titel des in München spielenden Stücks vom Schluss her erklärt. Da ist die Rede von einer Zeitungsnotiz über einen Mord in Oberösterreich, begangen von einem Mann an seiner schwangeren Frau: laut Bartl ein rückwirkendes Signal für die Auflösung von Raum und Zeit. Dieselbe Geschichte ereigne sich vielfach, hier wie dort, gestern wie morgen. Oder eben heute.

Die Premiere beginnt heute um 20 Uhr im Podium 1 des Esslinger Schauspielhauses. Die nächsten Vorstellungen folgen am 28. September, 1., 7. und 25. Oktober.