„Faustgroß“ heißt die Stückentwicklung von Faraz Baghaei an der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg. Fotos: Philip Henze Quelle: Unbekannt

Von Verena Großkreutz

Stuttgart - Wie André Jung als Hans Styx verliebt um Eurydike herumtänzelt, mit verdrehter, oft falscher Grammatik ein Höchstmaß an bezirzender Höflichkeit zusammenstammelt: Das ist lustig. Auch wie er in seinem Couplet „Als ich noch Prinz war in Arkadien“ - mit sehr hohem Zylinder und langen grauen Haarsträhnen - dieses „Arka . . . ha-ha-ha-ha-ha-ha . . . dien“ heiser und kurzatmig singend in die Länge zieht, bringt eine Menge Lacher. Die Komik, die Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“ fordert, muss man eben können. Und André Jung ist ein brillanter Schauspieler, der improvisieren kann.

In Armin Petras’ Inszenierung von Offenbachs „Opéra bouffe“, die jetzt an der Stuttgarter Staatsoper Premiere hatte, sind die gesprochenen Dialoge ansonsten die große Schwäche. Petras hat die Texte selbst bearbeitet, aber nicht wirklich lustig in Szene setzen können. Die Dialoge wirken oft steif, vieles bleibt Rampen- und Stehtheater. Petras weiß mit dem Stuttgarter Opernchor, der eigentlich für seine Spielfreude berühmt ist, nur wenig anzufangen.

Aber das ist nicht das Hauptproblem. Petras, der erst wenig fürs Musiktheater gearbeitet hat, besitzt viel zu viel Respekt vor der Oper. Ergo versucht er, „Orpheus in der Unterwelt“ möglichst ernst zu nehmen. Beschäftigte sich mit der Zeit ihrer Uraufführung (1858, zweite Fassung 1874) und stellt sie ins Umfeld der revolutionären „Pariser Kommune“ von 1871, der ersten Rätedemokratie. Das bekommt aber nur der mit, der das Petras-Interview im Programmheft gelesen hat. Das Video, das dem Abend zur Ouvertüre zwecks Erklärung vorgeschaltet wird, bleibt für sich stehen: Eurydike, die in einer Nähfabrik arbeitet, aus der sie Musikprofessor Orpheus dann rettet. Auf ins bürgerliche Leben! Später werden noch einmal revolutionäre Szenerien per Video eingeblendet. Aber zum Rest der Inszenierung hat das keinen Bezug. Eurydikes proletarische Vergangenheit bleibt verborgen: Sie ist und bleibt eine aufgedrehte, vom Ehemann genervte bürgerliche Hausfrau, die die Ausflüge in die Ober- und Unterwelt dankend annimmt - um sich dort weiter zu langweilen. Es gäbe viele Möglichkeiten, Offenbachs Travestie der antiken Orpheussage, diese Parodie diverser Orpheus-Opern, diese Satire auf die gesellschaftlichen Verhältnisse des zweiten französischen Kaiserreiches unter Napoleon III. auf die heutige Zeit umzumünzen. Und gerade die Rolle der personifizierten Öffentlichen Meinung (Stine Marie Fischer) böte viel Raum für eine Aktualisierung - auch in eigener Sache. Aber Petras traut sich nicht.

Langweilige Unterwelt

Die zeitliche Verortung der Operette bleibt weitgehend unbestimmt. Mal trägt die Personage Kleidung des 19. Jahrhunderts (Kostüme: Dinah Ehm). Auf Jupiters Olymp, einer Art futuristischer Club, hängen die oberen Fünftausend dann in heutigen Glitzerklamotten und mit bunt gefärbten Haaren herum. Soll wohl unsere Spaß- und Konsumgesellschaft aufs Korn nehmen. Im Hintergrund sieht man Sternchen blinken und videoanimierte Götter auf Monden, Schwänen und Wolken sich räkeln, schaukeln und abstürzen. Nett illustriert! Derweil überm schicken Wasserbassin Planeten wie Weihnachtskugeln baumeln (Bühne: Susanne Schuboth). Witzig Yuko Kakuta als liebesmüder, puttenartiger Cupido-Amor. Den Chor als die schläfrige High Society lässt Petras unbeweglich. So langweilt man sich streckenweise genauso so wie die auf der Bühne, die sich mit Champagner volllaufen lassen und ob dieser einseitigen Ernährung irgendwann gegen Gott Jupiter rebellieren. Aber auch dieser marseillaisebefeuerte Aufruhr ist einfallslos als Pulk inszeniert, wie auch die vielen Solonummern mit all den mitreißenden Songs Rampentheater bleiben - allen voran das Couplet „Wir kennen dich, Jupiterlein“, in dem sich die anderen Götter über den Oberboss lustig machen - als da wären Jupiter-Gattin Juno (Maria Theresa Ullrich), Liebesgöttin Venus (Esther Dierkes), Jägerin Diana (Catriona Smith) und Götterbote Merkur (Heinz Göhrig). Selbst Jupiter, den der voluminöse Bariton Michael Lebbecke mit sehr viel Vibrato singt, kommt erst später, in der Unterwelt, in Bewegung, wenn er in Stubenfliegen-Outfit zur Menuettmusik herumhüpft.

Immerhin ist Tenor André Morsch als Pluto, Eurydikes Liebhaber und Entführer, auch stimmlich ein recht charismatischer Unterweltschef, und auch seine kuriose dreiköpfige Schar Scheintoter, die ihm stets auf den Fersen ist, macht Laune: Gefährten mit Zweispitzen auf dem Kopf, schwarzumrandeten Augen, angegammelten Uniformen.

Ansonsten ist aber auch die Unterwelt - Ziel des „Betriebsausfluges“ von oben - nicht besonders aufregend. Und was soll sie bloß darstellen? Dort in der Ecke werden Frauen sachte mit Peitschen gestreichelt, in der anderen sitzt eine Séance-Gruppe, hinten wird geboxt und ein Sarg gebaut: Eine Art Wuselbild in finsterer Maschinen-Halle, von dem einen erst der berühmte Can-Can erlöst.

Und wäre da nicht diese mitreißende Musik von Offenbach, man wäre längst eingeschlafen. Aber die heizt dann doch immer wieder ein: die mal tirilierende und gurrende, mal tanzwütige und champagnerprickelnde Partitur setzt das Staatsorchester in der Leitung Sylvain Cambrelings transparent, leicht und fetzig um, auch wenn der Dirigent es nicht immer schafft, den Chor auf der Bühne ganz perfekt mit dem Orchester zusammenzubringen. Josefin Feiler als Eurydike wirkt zwar darstellerisch oft überdreht, zeigt dabei aber komisches Talent und Feingefühl für die Lebenslust und den Lebensfrust ihrer Rolle, und vor allem: Sie beeindruckt durch ihren schönen, höhensicheren, geschmeidig jubilierenden Sopran. Dass sie am Ende sogar sehr willig beim klebstoffschnüffelnden, langhaarigen Loser Bacchus (Max Simonischek) bleibt: Nun gut, das überzeugt so wenig wie der ganze Abend. Das Publikum jubelte trotzdem, für den Regisseur gab es ein paar Buhs.

Die nächsten Vorstellungen von „Orpheus in der Unterwelt“: am 9., 15., 17., 21. und 29. Dezember 2016, Beginn jeweils um 19 Uhr.