Der Fight ist gewonnen, die Schlacht ist verloren: Eingeschweißt ins historische Kostüm stehen die Darsteller am Ring und sind ins Theatermuseum verbannt. Nur Ginevra (Ana Durlovski, vorne) darf noch einen Moment in der Gegenwart verweilen. Foto: Christoph Kalscheuer Quelle: Unbekannt

Das Happy End wird zum Begräbnis erster Klasse für die lustvolle Gender-Mixtur der barocken Oper. Am Ende rundet sich Wielers und Morabitos grandiose szenische Beweisführung zu tagespolitischer Aktualität.

Von Martin Mezger

Stuttgart - Nicht wenige Leute hassen ihren Job. Soll sogar am Theater vorkommen. Etwa dieser Bühnenmeister, dieser jovial-sinistre Maschinist: Zieht die Strippen, schnipst das Licht an - und liest pünktlich zu jedem Aktschluss dem Theater als solchem, als Institution und Sittenverderbnis, die gnadenlosen Leviten. Was gibt es da nicht alles zu wettern: Das (Staats-)Theater unterminiert den Staat und verwirrt die Gemüter. Es schröpft das Volk und entlastet die reichen Zuschauer. Der Schauspieler stellt andere Überzeugungen als seine eigenen zur Schau, die Schauspielerin - noch viel schlimmer - stellt sich für Geld aus und damit alsbald auch zur sexuellen Verfügung. Daher gibt es für eine Frau „außerhalb eines zurückgezogenen häuslichen Lebens keine guten Sitten“. Worte des Jean-Jacques Rousseau aus dem Jahre 1758. Rousseau? Der war doch sonst ganz okay: Vordenker demokratischer Selbstbestimmung, Zivilisationskritiker mit Sympathie für indigene Völker und - Theaterfan mit eigenen Beiträgen als Autor und dilettierender Komponist. Und dann dieses Spießer-Pamphlet? Es ist so zwiespältig wie der politische Theoretiker Rousseau, schillernd zwischen dem Säulenheiligen der Demokratie und dem Fürsprecher populistisch gestützter Diktatur. Sein Anti-Theatermanifest („Brief an d‘Alembert über das Schauspiel“) ist selbst eine Inszenierung, die mit fixen Rollenzuweisungen arbeitet. Und deshalb legen sie Jossi Wieler und Sergio Morabito in ihrer Inszenierung von Händels „Ariodante“ im Stuttgarter Opernhaus jener Theaterfigur in den Mund, die das Drama erst in Gang bringt: dem Intriganten Polinesso. Die Rousseau-Lektionen erteilt der Sängerdarsteller Christophe Dumaux, ein wendig-wohlklingender Kontratenor, im originalen Französisch gesprochen zu Musikbegleitung: als Melodram, wie es just Rousseau selbst als szenische Gattung erfunden hat. Das passt so verdammt gut zur Botschaft wie alles in der unheimlich klugen Inszenierung: Gegen das Theater wird Theater gemacht. Theatertheater, sozusagen.

In der Opernstory (nach einer Episode aus Ariostos „Rasendem Roland“) will der machtgierige Bösewicht durch gezielt erregten Sex-Verdacht gegen die schottische Prinzessin Ginevra deren Verlobung mit Ariodante sprengen. Damit wäre für ihn statt für den vom greisen König (Matthew Brook mit mächtigem Pathos-Bass) ausersehenen Ariodante der Weg zur Liaison mit der Königstochter und zum Thron frei. Nur zieht Polinesso im Duell um die Ehre der von patriarchaler Todesstrafe bedrohten Ginevra den Kürzeren. Doch inszeniert als theaterhassender Theatermann sitzt er am längeren Hebel. Er mischt eben nicht nur das Friede-Freude-Thronfolge-Idyll am schottischen Hofe auf. Sondern er führt Regie gegen das Theater als Freiraum der Identitäts- und Rollenwechsel, er wird bei Wieler und Morabito zur entschieden gegenwärtigen Drahtzieher- und Hauptfigur. In Turnschuhen und schwarzem Blouson wie ein hipper heutiger Rechtsintellektueller saugt er reaktionären Honig aus Rousseaus Buch, das er schon mal wie die Bibel küsst. Aber das totalitäre Repressionssystem, das er anstrebt, sprengt nicht das Theater, sondern schließt ihm den Weg ins Freie ab: Es wird zur geschlossenen Anstalt der Rollenzuweisungen in geschlechtlicher, sozialer, jeglicher Hinsicht. Beim obligatorischen Lieto Fine, dem Happy End der barocken Oper, stehen deshalb die Darsteller eingeschweißt ins historische Kostüm in Reih und Glied, scheinvergnügt posierend wie bei Monty Python oder Peter Greenaway. The Show must go on, aber tatsächlich ist Schluss mit lustig: mit den lustvollen Gender-Mixturen, den vom Identitätszwang befreiten Kostümierungen des „Ariodante“ wie der Opera Seria überhaupt, wo freimütig Frauen in Männerrollen auftreten und umgekehrt. Das Lieto Fine ist ein Begräbnis erster Klasse für die Opera Seria, ihre Beisetzung in der Leblosigkeit auch nur scheinbar historisch korrekter Klischees (nach denen es am Ende offenbar einige Buhrufer gegen das Regie-Duo gelüstete). Dafür darf die Opera bei Wieler und Morabito vor dem tristvergnügten Finale mit all ihren Finessen hochleben. Der Hof von Schottland ist in Nina von Mechows Arena-Bühnenbild (sie schuf auch die großartigen Kostüme) eine Art Aktuelles Sportstudio, wo ein Fußball-Symbol das Bodentuch ziert, ein Catchring samt Ringrichter Showdown-Schauplatz ist, Elektrohall künstliche Natur simuliert und allerlei Projektionen auf dem Bühnen-Display telegene Wirkung suggerieren. Es wird flott geschwoft, über die Bühne gefedert, der hitverdächtige Ohrwurm aus dem ersten Finale nachskandiert, und Ariodante schwingt schon mal munter an den Ringen hängend und legt einen eleganten Abgang hin auf jenen Thronfolge-Boden, den ihm Polinesso unter den Füßen wegzuziehen trachtet. Denn der Intrigant als Bühnenmeister gebietet über Maschinerien und Machinationen. Er fesselt Ginevra ans Scheinwerfergestänge und mit ihr sein Werkzeug, die ihm hörige Dalinda, die er durchaus in den Würgegriff nimmt, wenn sie Liebkosung erwartet. Das alles ist eine abgründige Show, ungeheuer gedankenreich, in detailliertester Fülle und Stimmigkeit inszeniert als Theaterrealität, als zeichenhafter Modus der Darstellung: von der rollenstiftenden Einkleidung aus Vermummung und Jogginganzug-Anonymität während der Ouvertüre bis zu den als szenische Dialoge statt als Rampensteherei realisierten Da-Capo-Arien. Das hat Witz: etwa wenn Ariodante seiner trillernden Ginevra am Busen wackelt oder der Schottenkönig eine Bravournummer seines Thronfolgers in spe mit freundlich-ironischen Bücklingen quittiert. Und das hat entgrenzende Tiefe: In Ariodantes und Ginevras großen, tragischen Arien im zweiten Akt öffnen Voxi Bärenklaus Videos den Projektionsraum in düstere Schwarzweiß- und Farbklecks-Dämonie, die um die Erotik des Kleidertauschs beziehungsweise die traumatische Kunde vom vermeintlich ertrunkenen Ariodante kreist - letzteres mit Bildern wie unter Wasser gefilmt. Es ist die Wiederkehr des zentralen Intrigen-Coups: Polinesso täuschte mit der als Ginevra verkleideten Dalinda den Fremdgang der Prinzessin vor, Ariodante stürzt sich daraufhin ins Meer (in Stuttgart geht er im Orchestergraben unter), überlebt jedoch den Suizidversuch. Nach statuiertem Exempel aber begeht Wielers und Morabitos theaterhassender Polinesso ein Massaker an seinen Beweismitteln: den Kostümen, die er schnöde missbrauchte und zerschnipselt in den Müll wirft - als Aufkündigung der Grundvereinbarung eines theatralen Frei- und Emanzipationsraums. Dass solche Freiheit - laut Rousseau - ihren (Theaterkarten-)Preis hat, also die „Ungleichheit der Vermögen“ spiegelt, gibt uns der Rechtsintellektuelle mit auf den Weg, nicht ohne die Folgerung: Diese Ungleichheit „muss ihre Grenzen haben, besondern in einer Republik“. Womit sich Wielers und Morabitos grandiose szenische Beweisführung zu bedenklichster tagespolitischer Aktualität rundet.

Und dazu ertönt beachtlicher Gesang von einem schauspielerisch durchweg formidablen Ensemble. Diana Haller zieht in der Titelrolle souverän das virtuose Koloraturenregister, auch wenn sie in ihrer Bravourarie „Con l‘ali di costanza“ eingangs um ein paar Sechzehntel kämpfen muss. In den elegischen Stücken blüht ihr Mezzosopran indes zu verbindlichster Expressivität auf. Ana Durlovski meistert mit großer technischer und stilistischer Sicherheit die Ginevra-Partie, auch wenn ihr Timbre bisweilen kehlig verhärtet klingt. Leuchtend und schlichtweg brillant Josefin Feilers Dalinda, von der Regie befreit aus der Dummchen-Rolle zur erotisch Selbstbewussten. Sebastian Kohlhepp gibt dem Ariodante-Bruder Lurcanio markige Tenor-Präsenz, freilich mit manchmal bellenden Koloraturen. Dirigent Giuliano Carella bringt das auf modernen Instrumenten spielende Staatsorchester auf einen erstaunlich authentisch phrasierten und dynamischen Händel-Kurs - abgesehen von ein paar schlaffen Synkopen.

Die nächsten Vorstellungen: 12., 15., 21. und 25. März, 3., 11., 15., 18. und 21. April.

Am kommenden Donnerstag, 19.30 Uhr, liest der Schauspieler Manuel Harder im Kammertheater aus Ariostos epochalem Epos „Orlando Furioso“ (Der rasende Roland), der literarischen Vorlage von Händels „Ariodante“.