Quelle: Unbekannt

Von Armin Knauer

Reutlingen - Etwas Besseres kann einem Kunstmuseum nicht passieren. Expressionisten sind ja ohnehin ein Publikumsrenner. Doch diese Schau im Spendhaus toppt das noch, indem sie gleichzeitig ein Abenteuer ist. Von morgen an wird hier jene Reise nachvollzogen, die den Maler Max Pechstein mit seiner Frau Lotte 1914 und 1915 in die Südsee führte.

Und so taucht der Blick beim Flanieren in blaue Lagunen, streift pittoreske Hügel, Insulaner mit bronzefarbener Haut und pfeilschnelle Kanus. Auf Malereien, Aquarellen, Rohrfederskizzen. Immer wieder tauchen auch greifbare Objekte auf: der verkleinerte Nachbau eines Auslegerbootes, Schalen, Töpfe, Zierkämme, das Modell einer Versammlungshütte.

Neben den Bildern fällt der Blick auf dokumentarische Schwarz-Weiß-Fotos, die der Ethnologe August Krämer, der spätere Leiter des Stuttgarter Lindenmuseums, in der Südsee aufnahm. Pechstein kannte die Aufnahmen, manche davon hat er offenbar als Vorlage benutzt.

Unterschiedliche Sichtweisen

Zum Mitreise-Trip wird das alles aber erst durch die Tagebücher des Paares. Seine Aufzeichnungen, nur für die Hinreise erhalten, bedecken gerahmt eine ganze Wand; ihre, die den gesamten Aufenthalt abdecken, kann man an einem Monitor anschauen. In gut leserlicher Schreibschrift, mit unzähligen Zeichnungen verziert, sind sie Zeugnis zweier ganz unterschiedlicher Sichtweisen auf dieselbe Reise: bei ihm literarisch überhöht und idealisierend; bei ihr lebenspraktisch und ungeschönt. Der schöne Katalog (Kerber-Verlag) stellt beide Versionen gegenüber.

Die Südsee, das Exotische - ein Topos, der für moderne Kunst existenziell war. Van Gogh ließ sich durch japanische Farbholzschnitte begeistern, Gauguin brach gleich leibhaftig in die Südsee auf; Emil Nolde tat es ihm nach, während es Macke und Klee nach Tunesien zog. Sie alle wollten weg von den Konventionen der Akademien und hin zu einem neuen, rohen, unverstellten Blick auf die Welt.

Den glaubten die Expressionisten bei den Südsee-Insulanern zu finden. Deren Ursprünglichkeit sie nacheiferten, indem sie mit ihren minderjährigen Modellen aus Dresden und Berlin an die umliegenden Seen zogen. Wo man nackt badete und im Gras spielte, skizzierte und sich an Luft und Körperkult berauschte.

Pechstein sucht es dann leibhaftig, dieses Paradies. 1914 schifft er sich mit der damals 21-jährigen Lotte in Genua nach Palau ein, das Deutschland erst 1899 als Kolonie von Spanien übernommen hat - und bald darauf wieder verlieren wird. Sechs Wochen dauert die Hinfahrt über den Suez-Kanal, Colombo und Singapur - eine Reise fast mit Kreuzfahrtcharakter, wie Spendhausleiter Herbert Eichhorn beim Presserundgang erklärt - samt improvisiertem Pool auf Deck.

In Palau leben die Pechsteins auf einer kleineren Nebeninsel und tauchen ein in die Bräuche der Einheimischen; lassen sich von ihnen mit dem Kanu die Küste entlang fahren und unternehmen eine zwölftägige Erkundungsfahrt auf einem Segelschiff von Dorf zu Dorf. Aus Lottes Tagebuch wird klar, dass das alles nur mithilfe der Kolonialverwaltung und wechselnder einheimischer Diener möglich ist. Und dass die Kultur der Einheimischen bereits vom europäischen Ethno-Tourismus vermarktet und geplündert wird. Attraktive Stücke von Stammeskunst wie die berühmten Balkenmalereien aus Versammlungshäusern sind bereits in die Völkerkundemuseen gewandert. Die Einheimischen treiben derweil Souvenirhandel mit Minimodellen ihrer Hütten und Schiffe.

Nichts davon findet sich auf Pechsteins Bildern. Die Südsee-Idylle malt er in einer Unberührtheit, die in der Realität längst passé ist. Und er setzt sie einem europäischen Blick aus - vor allem, in dem er die Nacktheit der Einheimischen erotisch deutet. Schneller als gedacht ist der Traum zu Ende. Der Erste Weltkrieg bricht aus, die Versorgung an Lebensmitteln wird prekär. Statt nach zwei Jahren, wie geplant, reisen die Pechsteins nach vier Monaten ab. Elf Monate dauert die Rückreise. Über Japan schlagen sie sich bis San Francisco durch, von dort nach New York, wo Deutsche als Kriegsgegner aber nicht mehr befördert werden. Unter holländischem Pseudonym gelingt es Pechstein, als Heizer auf einem Dampfer anzuheuern; Lotte verdingt sich als Stewardess. Die Rückreise gelingt, doch Pechsteins nächste Station ist der Schützengraben des Krieges.

Seine Reise wird für ihn dennoch die Reise seines Lebens bleiben und sein Werk bis zu seinem Tod 1955 beeinflussen. Und so idealisierend sein Blick auf die pazifische Inselwelt auch gewesen sein mag: Als Ziel der Sehnsucht nach dem Ursprünglichen hatte die Auseinandersetzung mit ihr einen enormen Einfluss auf die Moderne in Europa.

Die Ausstellung „Der Traum vom Paradies. Max und Lotte Pechsteins Reise in die Südsee“ ist bis 22. Januar im Kunstmuseum Spendhaus, Spendhausstraße 4, Reutlingen, zu sehen. Eröffnung ist heute um 19 Uhr. Geöffnet ist Dienstag bis Samstag 11 bis 17 Uhr, Donnerstag 11 bis 19 Uhr sowie Sonn- und Feiertage 11 bis 18 Uhr. Der Katalog im Kerber-Verlag mit Texten von Aya Soika kostet im Museum 29 Euro.

www.reutlingen.de/kunstmuseum