Unbändige Leidenschaft: Sänger und Gitarrist Simon Neil. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Die Songs sind durch und durch schottisch, aber die Umsetzung ist amerikanisch. Alles ist möglich.Neil war überzeugt, dass er nie wieder Songs würde schreiben können. Nicht vergessen, aber vorbei.

Von Ingo Weiß

Stuttgart - Biffy Clyro sind neue Giganten am Rock-Himmel. Die schottischen Alternative-Rocker klingen beim Stuttgarter Konzert zwischen teils sperrigem Punk-Prog-Rock und mainstreamigem Größenwahn. Episch und doch ohne Pathos. Wie das Liebeslied „Many of Horror“, das das schlagkräftige Trio ans Ende des regulären Sets stellt und bei dem die Fans so lauthals mitsingen wie die VfB-Anhänger im berühmten A-Block. Ihre Songs - Sänger und Gitarrist Simon Neil und Schlagzeuger Ben Johnston wohnen noch immer in der schottischen Provinz, in Kilmarnock; nur Zwillingsbruder James Johnston (Bass) lebt in Glasgow - sind durch und durch schottisch, aber die Umsetzung ist amerikanisch. Think Big. Alles ist möglich.

Die Porsche-Arena ist zu klein für ihre grandiose, unfassbar energetische und intensive Show. Wie die Apokalypse brechen sie nach einem Klassik-Intro über die 4000 Fans herein. Licht, Lärm, Ekstase. Der Auftakt „Wolves of Winter“, ein kompromisslos gradlinig vorpreschender Song, ist eine Art Selbstverteidigungslied. Niemand darf Biffy Clyro zu nahe kommen. Fortan entfesseln sie pure Live-Magie. Mitreißend, bissig, kathartisch. So gut, dass sich Bands wie die Foo Fighters oder Linkin Park warm anziehen müssen.

Das aktuelle Album „Ellipsis“ ist die Geschichte eines tiefen Falls, dem Tod, dem Kontrollverlust, einer bewussten Vollbremsung, aber auch dem Finden neuer Wege. Ihr siebtes Werk, eine der besten Rockplatten 2016, ist quasi ihr zweites Debüt. Es ist, nach einer längeren Auszeit und den zwei vorigen, sehr erfolgreichen Alben „Only Revolutions“ und „Opposites“, die Wiedergeburt einer Band. Nunmehr, neugeboren, sind sie augenblicklich die größte Versuchung seit es Independent Rock gibt.

Man verausgabt sich auf beiden Seiten. Hier die Fans, die inbrünstig mitsingen wie bei „57“, moshen, klatschen und tanzen. Die Stimmung ist ausgelassen. Dort das sympathische Dreigestirn, verstärkt durch Mike Vennart (Gitarre) und Richard Ingram (Keyboards), das einen Hit nach dem anderen zelebriert. Und das ist fast schon beängstigend. Biffy Clyro haben, aufgereiht wie auf einer Perlenschnur, fast zu viele davon. Beinahe jedes Stück ist eine brillante Hymne, hart erarbeitet und doch scheinbar mühelos gestreut. „Sounds like Balloons“ an dritter Stelle. „Biblical“, ein wunderschöner, überragender Livesong mit formidablem Schlachtgesang und Breitwandsound par excellence. „Black Chandelier“ und natürlich „Bubbles“ mit seiner vertrackten Rhythmik und einem eskalierenden Ende.

Biffy Clyro sind den ganz großen Melodien verfallen. Die gigantische Stadionrock-Attitüde ist unverkennbar. Ihre Erfolgsformel aus melodiöser, emotionaler, teilweise extrem harter Rockmusik vermengt mit betörenden Balladen wie „Medicine“ funktioniert superb. Die Gratwanderung zwischen metallisch schwer und poppig luftig gelingt eindringlich, der Drahtseilakt zwischen vollfrontalen Riff-Attacken und Gänsehautmomenten brillant. Das Ergebnis ist in der Porsche-Arena ein homogener Auftritt, gleichwohl die Songs live ungleich härter, exzentrischer, aggressiver und rasanter performt werden als auf den Alben.

Aus ihrem Durchbruchalbum „Puzzle“ von 2007, das sich fast komplett um den Tod von Simons Mutter dreht, spielen sie „Living Is A Problem Because Everything Dies“ und, als erste Zugabe, „Machines“. Das Gros der 24 Songs stammt freilich von den jüngsten drei Hit-Alben. Wie das neue „Re-Arrange“, das die Band fast intim, aber betörend spielt, obwohl es davon handelt, wie eine monatelange Schreibblockade bei Simon Neil zu einem kompletten Verlust des Selbstvertrauens führte, was wiederum eine Identitätskrise hervorrief und schließlich in einer sinnlosen Angst vor dem Scheitern mündete. Neil war tatsächlich überzeugt, dass er nie wieder würde Songs schreiben können. Nicht vergessen, aber vorbei. In Stuttgart offenbaren sie meisterhaft Ecken und Kanten und bringen größere Melodien hervor als die meisten sogenannten Popbands je erschaffen könnten. Das gilt auch für jene besinnlichen Momente, in denen Neil allein, nur mit Akustikgitarre, im Scheinwerferlicht steht und verzaubert.

Überhaupt versinken die drei schottischen Bravehearts förmlich in ihrer Musik und zeigen eine unbändige Leidenschaft, die schon nach wenigen Takten auf das Publikum übergreift. Sie geben alles, was sie haben. Bestechend souverän transportieren sie ihre kraftvolle Energie bis in die hintersten Reihen der Arena. Zu jeder Zeit bleibt der Spannungsbogen erhalten, keine einzige Minute fällt er ab. Nicht einmal bei „Glitter & Trauma“, dem vielleicht besten Song des Abends, obwohl er ungemein sperrig ist, sich in ihm aber alles kulminiert, was Biffy Clyro ausmachen. Und weil das so ist, braucht es auch kein ablenkendes Brimborium drumherum. Keine Leinwände, keine Videos, keine Tänzer, nichts. Die einzigen beiden Effekte, die sich die Band überbordend leistet, sind: Erstens ein unglaublich wuchtiger Sound-Orkan, ohrenbetäubend, dynamisch, vielfältig, dicht. Und zweitens eine bombastische Lichtshow: grell, stroboskopisch, gewittrig zuckend, blendend. Perfekt abgestimmt auf Bens marschierendes Schlagzeug. Obligatorisch spielen er und sein Bruder von Beginn an mit nacktem Oberkörper, Simon entledigt sich seines blauen Hemdes im sechsten Stück. Alle drei gewähren ab da Einblick in ihre kreativ bemalte Haut und fast scheint es so, als würde darunter goldenes Blut durchschimmern.

Biffy Clyro rocken eindreiviertel Stunden lang. Die Zugaben enden als grandioses Finale furioso. Mit „Animal Style“ und „Stingin’ Belle“ brechen sie noch einmal, wie zu Beginn, wie das Jüngste Gericht herein, ausgereizt bis zur Ekstase. Den Fans verschaffen sie so ein erhebendes Glücksgefühl. Genau für solche Momente geht man in Rockkonzerte. Das Tier im Manne, das Biffy Clyro mit „Ellipsis“ wieder entfachen wollten, ist in der Porsche-Arena als Biest zurückgekehrt. Schön. Wild. Prachtvoll. Herrlich. Nie waren Biffy Clyro besser.