Von Eberhard Iro

Nürtingen - Den Beinamen „Il Divino“ - der Göttliche - vergab man im 18. Jahrhundert großzügig. Wenn heutzutage ein Gitarrist diesen Beinamen verdiente, dann David Russell. Sein Spiel ist nicht absolut makellos, aber eine Offenbarung. Weil jeder Virtuose heute Bach spielt, schwamm Russell für sein Konzert in der Nürtinger Kreuzkirche gleichsam bachaufwärts zu dessen Leipziger Amtsvorgänger Johann Kuhnau. Die zweite und fünfte Partita aus Kuhnaus „Clavierübungen“ spielte Russell in eigenen, verantwortungsvollen Transkriptionen. Ein Phänomen, welch tänzerische Leichtigkeit er selbst schon dem Präludium verlieh. Zudem schmückte der Verzierungskünstler die Suitensätze geschmackvoll mit reichlich Ornamenten und beseelte die ursprünglich für Instrumente ohne Anschlagsdynamik komponierte Musik mit feiner Dynamik.

Noch weiter zurück in die Musikgeschichte ging der britische Komponist Stephan Goss. Er hat in seinen Russell gewidmeten „Cantigas de Santiago“ Melodien aus mittelalterlichen nordspanischen „Pilgerführern“ verarbeitet. Bordunbässe und modale Wendungen erinnern an alte Satztechniken. Von Bach spielte Russell die Partita BWV 825: nicht ganz unfehlbar, denn zwischen absolut schlüssiger Linienführung hörte man kurze Unsicherheiten. Was zählt ist jedoch, wie Russell die einzelnen Stimmen leuchten ließ, ihnen durch kleine metrische Freiheiten großen rhythmischen Drive verlieh. „Andaluza“ und „Danza triste“ als Hommage an Enrique Granados zu dessen 100. Todestag waren ebenso wie die drei Zugaben, ohne die ihn die begeisterten Zuhörer nicht ziehen ließen, souveränes, auswendiges Heimspiel des regelmäßigen Gasts aus Schottland.

Aparte Klangmöglichkeiten

Einen ganz anderen Weg zur Musik der Zeit vor Bach wählte Björn Colell. Auf Barockgitarre und Theorbe spielte Colell, gefragter Dozent für historische Zupfinstrumente und Gastmitglied diverser Barockorchester, vorwiegend italienische Komponisten des 17. Jahrhunderts. Die aus der Not des Saitenmaterials geborene Tugend, bei der fünfchörigen „Chitarra“ oder „Guitarra española“ die eigentlich „tiefen“ Saiten zu oktavieren, gab dem zierlichen Instrument aparte Klangmöglichkeiten. Die schöpfte Colell zur Genüge aus, als er Suitensätze von Angelo Michele Bartolotti und Bellerofonte Castaldi ungeachtet technischer Tücken höfisch grazil präsentierte und demonstrierte, wie die Komponisten den Wechsel von geschlagenen Akkorden und gezupften Passagen effektvoll einsetzten. Die d-Moll-Suite von Robert de Visée, dem Hofgitarristen Ludwigs XIV., befreite er von jeglicher Schlacke. Rasche Tempi und zahlreiche Verzierungen legten völlig neue Klangfacetten frei.

Die Chitarrone oder Theorbe war dank ihres großen Tonumfangs ein Generalbassinstrument der frühen Oper. Zu den Komponisten, die diesen Umfang gezielt ausnutzten, zählen neben de Visée, dessen G-Dur-Suite Colell mit einem regelrechten Zwiegespräch zwischen Bass und Diskant eröffnete, Castaldi und Alessandro Piccinini. Schön artikulierend und fast beschwingt spielte sich Colell durch die teils komplexe Rhythmik der Suitensätze. Seine superbe Technik durfte man in einer Piccinini-Toccata bestaunen. Solche Konzerte geben den Nürtinger Festspielen historischen Tiefgang. Weiter so!