Bedrückend aktuell und brisant: Felix Jeiter als späterer Amokläufer William und Stephanie Biesolt als seine erfolglos angebetete Lilly in Simon Stephens’ Schülertragödie „Punk Rock“, inszeniert von Christof Küster. Foto: Patrick Pfeiffer Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Esslingen - Zweite Spielzeiten nach einem Intendantenwechsel gelten unter Theaterleuten immer ein bisschen als Problemzone. Lockte der Neue in seiner ersten Saison noch die Neugier des Publikums, macht sich in der zweiten Runde oftmals Skepsis oder gar Enttäuschung breit. Beispiel: Armin Petras am Stuttgarter Staatsschauspiel, mit fulminantem Powerplay und entsprechender Resonanz im Herbst 2013 gestartet, dann auf nur noch 78 Prozent Platzausnutzung abgesackt und jetzt, in seiner dritten Saison, gar auf karge 74 Prozent. Zu den Gegenbeispielen zählt Friedrich Schirmer, im September 2014 an die Esslinger Landesbühne (WLB) zurückgekehrt. Auch er hat in seiner ersten Spielzeit gleich mal prächtig reüssiert, die Besucherzahlen in Esslingen um gut 20 Prozent gesteigert - freilich mit dem Rückkehrer-Bonus im Rücken. Seine erste WLB-Zeit von 1985 bis 1989, seine Stuttgarter Schauspielleitung von 1993 bis 2005 hatten ihm eine treu ausharrende Fan-Gemeinde beschert. Doch sattelte Schirmer in seiner zweiten und nun vergangenen Saison 2015/16 gleich noch mal ein Besucherplus in ungefähr derselben Höhe drauf - was sich mit Nostalgie allein sicher nicht erklären lässt.

Kein Petras-Symptom in Esslingen

Also kein Petras-Symptom in Esslingen, vielleicht sogar Stuttgarter Petras-Dissidenten im Publikum. Allerdings sind Besucherstatistiken ein Zahlensalat ohne Dressing, wenn die künstlerische Qualität außen vor bleibt. Nur: Das Eine ohne das Andere - Dressing ohne Salat, Kunst ohne Zuschauer oder umgekehrt - schmeckt eben auch nicht. Und natürlich hinkt der Vergleich des amtierenden Stuttgarter Schauspielchefs mit seinem nun in einer anderen Liga aufsteigenden Vorvorgänger. Ein Staatstheater hat andere Aufgaben als eine Landesbühne. Theatergeschichte schreiben zu wollen (und zu sollen) mit dem unvermeidlichen Risiko, vielleicht nur Avantgarde-Moden hinterherzuhecheln, ist eine andere Sache als die Aktualität des Mediums Theater in der Spiegelung von Gegenwart und (Zeit-)Historie zu erweisen. Wenn letzteres - abstrakt formuliert - Landesbühnenangelegenheit ist, hat Schirmer konkrete Spielplanformate dafür gefunden: in seiner zweiten Saison möglicherweise noch mehr als in seiner ersten. Und damit erreicht er offenkundig das Publikum.

Was indes Künstlerpech jener Sorte nicht ausschließt, das just den Spielzeit-Auftakt schwärzte. Wagners „Fliegender Holländer“ in einer Bearbeitung des einst so anarchischen Andreas Marber und inszeniert vom Regiezauberer Marcel Keller: eine tolle Idee, die viel versprach und wenig hielt. Alles in allem reichte es kaum zu mehr als einer betulich dahinplätschernden Nacherzählung. Als Konzept-Kunst freilich fügt sich das Projekt in Schirmers Umgang mit Klassikern beziehungsweise in diesem Fall klassischen Stoffen. Hatte sein Vorgänger Manuel Soubeyrand die Schiller-Goethe-Shakespeare-Reclamhefte in beflissener Textverliebtheit auf die Bühne gehievt und dort bisweilen allzu dicke Weltbedeutungsbretter gebohrt, wahrt Schirmer lockere Distanz zu solcher Überforderung. Dahinter dürfte die kritische Einsicht stecken, dass auch und gerade klassischem (Lese-)Stoff nicht automatisch Bühnenflügel wachsen. Was ihn beflügelt, ist der besondere Dreh, und der gelang mit mehr Fortune als beim „Holländer“ dem Freilicht-Saisonfinale mit Jörg Ehnis nach Württemberg verfrachtetem „Hamlet“. Klaus Hemmerles Regie wahrt mit Witz und Openair-Tributen durchaus Shakespeare’schen Geist, und der „Goischt“ im Stück selbst kommt vo’dr Alb ’ra: nicht als plumpe Parodie, sondern als eine Facette in Ehnis kluger schwäbischer Dialektdosierung zum Zweck der Entlarvung konservativ-bodenständiger, aber alles andere als gemütlicher Macht.

Regionales nicht als Wir-sind-wir-Kult, sondern als Reibungsfläche: Damit dockt „Hamlet, Prinz von Württemberg“ an jenen anderen Spielplan-Strang an, der mit Oliver Storz’ schwäbischer Querulanten-Komödie „Der Sheriff von Linsenbach“ eben auch nicht nur durch den Besetzungscoup mit Wieland Backes in mehreren Nebenrollen glänzte. Sondern dank Christine Gnanns Regie die welthaltige Brisanz in der Lokalposse, die gerechtigkeitsfanatische Tragik in der munteren Mundartklamotte zur Geltung brachte.

Das Große im Kleinen

Im Fall der Dramatisierung von Walter Kempowskis „Tadellöser und Wolff“ ging die Rechnung mit dem Großen im Kleinen allerdings nicht auf. Regisseur Klaus Hemmerle hat den Familienroman im „Dritten Reich“ trotz allem bemüht in Szene gesetzten Nazi- und Kriegshintergrund ans Humorig-Harmlose versemmelt. Wie ein Roman auch auf der Bühne funktionieren kann, bewies dagegen Alexander Müller-Elmau mit seiner beklemmend dichten, dabei analytisch scharfsichtigen Version von Kafkas „Prozess“. Und wie der Unsinn des Krieges samt seiner Versehrungen in grotesk-gewaltige, tragische wie komische (Szenen-)Bilder zu bannen ist, zeigte Christof Küster mit seiner Inszenierung des zu Unrecht selten gespielten Dramas „Der Preispokal“ von Sean O‘Casey, der Geschichte einer irischen Fußballmannschaft, die stolzgeschwellt in den Ersten Weltkrieg zieht und verkrüppelt zurückkehrt.

Dass eine Landesbühne den Weg von der (Zeit-)Geschichte zur Jetztzeit beeindruckend zurücklegen kann: Dafür stehen so unterschiedliche Inszenierungen wie die Uraufführung von Petra Afonins einfühlsam-boshafter Altenheim-Revue „Schnabeltassen“ oder von Anna Wimschneiders „Herbstmilch“, jener Lebensgeschichte einer Bäuerin zwischen archaischer Tradition und Moderne. Mit Beate Faßnachts „Obwohl“ in Wolfram Apprichs Inszenierung setzte die WLB einen starken Akzent auf dem Terrain sprachexperimenteller Gegenwartsdramatik. Die Kooperation mit dem Stuttgarter Avantgarde-Theater Rampe und den Ruhrfestspielen (wo die Uraufführung stattfand) ist eine Strategie, die auf weitere solcher Theater-Großtaten hoffen lässt.

Die äußerst rege Junge WLB, die hauseigene Kinder- und Jugendsparte in der Leitung von Marco Süß, war auf der großen Bühne nicht nur mit Jenke Nordalms schöner und witziger Vorweihnachtsinszenierung des „Kleinen Ritter Trenk“ vertreten, sondern auch mit einer „richtigen“ und gewichtigen Gemeinschaftsproduktion: Christof Küster inszenierte in aller Tragik, Drastik und tieferen Bedeutung Simon Stephens‘ Schüler- und Amoklauf-Drama „Punk Rock“ - ein bedrückend aktueller Versuch, dem Unverständlichen und Grauenhaften ohne plumpe Erklärung näher zu kommen.

Die Bilanz der Bilanz: Friedrich Schirmer ist mit einem maßgeschneiderten Landesbühnenkonzept wieder in Esslingen angekommen - und die WLB in der besagten Aktualität des Mediums Theater.

In einer Serie ziehen wir eine Bilanz der vergangenen Spielzeit an den wichtigsten Bühnen der Region. Nach dem heutigen Auftakt mit der Esslinger Landesbühne geht es in der nächsten Folge um die Stuttgarter Oper.