Kunstmensch aus der Horror-, Science-Fiction- und Musical-Retorte (von links): Ralph Hönicke als Homunculus, Marcus Michalski als Wagner, Ulf Deutscher als Mephisto alias Fizz und Florian Stamm als Famulus. Foto: Patrick Pfeiffer Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Esslingen - Eines hat Musical-Matador Martin Lingnau wahrlich drauf: Was er aus dem Notengriffel beziehungsweise der Notensoftware zaubert, das fetzt und rockt und swingt und schnulzt auch mal, dass es seine unwiderstehliche Art hat. Bei dem Komponisten aus Hamburg ist die Erfolgsgarantie eingebaut - bei seinem Dauerbrenner „Heiße Ecke“, seinen Musicalisierungen von „Der Schuh des Manitu“ oder „Das Wunder von Bern“, und bei „Doctor Faustus’ Magical Circus Part II“ an der Esslinger Landesbühne (WLB) dürfte es nicht anders sein. Zumindest sofern man aus dem für hiesige Verhältnisse geradezu enthusiastischen Applaus nach der Uraufführung schließen darf.

Das Ganze am Stück - Lingnau schrieb auch die Dialoge - ist sozusagen die Anwendung der guten alten „Rocky Horror Show“, die auch schon 43 Jahre auf dem Transenbuckel hat, auf den noch etwas älteren „Faust II“ des Johann Wolfgang von Goethe. Auf dass Tingeltangel, Trash und Tralala den schwersten aller Klassiker zu magisch-leichtem Musical-Zirkus wachküssen mögen. Die Anregung dazu kam übrigens von WLB-Intendant Friedrich Schirmer in seiner Zeit am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, die Realisierung hat er nach Esslingen mitgebracht.

Trottel-Kaiser und andere Freaks

Es ist eine gute, eine naheliegende Idee, nicht nur weil Goethes wortreiches Stationendrama selbst wie eine Revue durch antike Mythologie und Mittelalter tingelt. Sondern auch, weil die berüchtigte Unverständlichkeit sich in Luft auflöst, wenn man die Frage nach dem, was Fausts Welt im Innersten zusammenhält, den Germanisten überlässt. Und dem Theater gibt, was Goethe da so zusammengedichtet hat: eine locker gefügte Freak-Show, wo die teuflische Erfindung des Papiergelds einem Trottel-Kaiser aus der Finanz-Bredouille hilft, wo man sich als zeitreisender Sex-Tourist kurz in die Antike zurückbeamt und mit der schönen Helena im Arm wiederkehrt, wo ein künstlicher Mensch in der Reagenzvitrine erzeugt und der Teufel am Ende um seinen Satansseelenbraten geprellt wird. Ziemlich schräg das alles, durchaus witzig und fast schon selbst eine Rocky Horror Faust Show.

In Esslingen heizen sie Lingnaus zündende Songs auf, denen Wolfgang Adenbergs grandiose 22 Songtexte erst recht Feuer geben - auf Englisch (mit Übertiteln), wie es sich für Rock- und Pop-Mythen gehört. Die Hymne an die Dekadenz etwa, oder die an Fausts Helena-Fankult gerichtete Warnung „Never trust a woman in a magazine“ (weil ihre Schönheit aus dem Photoshop stammt) - das und vieles mehr sind knackigste, griffigste, geistreich swingende Pop-Lyrics. Und weil Regisseur Marcel Keller so gut wie die Autoren um die Attraktivität der Gegensätze weiß, beginnt die Chose betont dröge: mit einem grauen Prof. Mathias Eckermann (Christian A. Koch), Nachfahre des gleichnamigen Goethe-Adlatus, der erst mal doziert, doziert, doziert - und naturgemäß den eigenen Urahn nebst sich selbst aufs ebenbürtige Genietreppchen zu lupfen trachtet. Dann aber geht‘s rund in der Manege: Halligalli und „Was bisher geschah“ („Faust I“ als Puppenlatz-Spiel), Gretchen schmeißt ihr Baby fort, und weil das alles so traumatisch ist, kommt Johnny Faustus mit seinem steinernen Herz (Oliver Moumouris als Streifenanzugträger zwischen Filmgangster und Strizzi) erst mal in die Elfen-Reha, sanft umschaukelt und wunderbar kehlig umsungen von Kristin Göpferts Ariel. Dann darf man Taten sehen: Mephisto alias Fizz, teuflischer Rotschopf, den Ulf Deutscher in prächtigem Denglisch radebrecht, wirft die Notenpresse an, am Kaiserhof frönt man inflationär-dekadentem Reichtum, den angewiderten Faust zieht’s zu Höherem (oder Tieferem): Helena. Alles wie bei Goethe (und mit einigem Goethe-Textanteil).

Fummel, Rummel und Klamauk

Regisseur und Bühnenbildner Keller samt Kostümbildnerin Katrin Busching scheuen weder Fummel noch Rummel, schonen Klamauk nicht und nicht Dekorationen: vom Affenkopf auf Halskrause bis zur kleinen Theaterbühne im großen Zirkustheater. Professor Eckermann funkt mehrfach dazwischen, und stets geht dann das Saallicht an. Das Rollenverzeichnis ist noch faustisch entgrenzter als bei Goethe, im „Magical Circus“ tummeln sich beispielsweise auch Lady Macbeth und Jesus samt Aposteln.

Das alles verspricht viel, hält aber nicht alles. Zwischendrin zieht sich die Sache, die betagte Rocky-Horror-Masche mündet ins Erwartungsgemäße, die Respektlos-Pose haut längst keinen Philologenhintern mehr aus dem Empörungssessel. Es fehlt schlichtweg eine Dosis an unverschämt anarchischem Witz, an brüllender Pointe. Dann ist’s ein bisschen so wie im Fernsehen, wenn die Werbung besser ist als der Film. Hier sind für die (tatsächlich lustigen) Werbe-Gags die Gaststars aus anderen Dramen zuständig: Lady Macbeth scheuert vergeblich am Blutfleck, „Fizz, der Putzteufel“, ein mephistophelischer Haushaltsreiniger, macht ihn weg. Und beim letzten Da-Vinci-Abendmahl findet Judas Döner schöner als das ewige Brot, dem erst „Salsa Satanica“ die eucharistische Würze verpasst.

Mehr Pepp hat denn auch der zweite Teil: Wenn Florian Stamm als Quasimodo-Verschnitt und Diener des verklemmten Kunstmenschenerzeugers Wagner (Marcus Michalski) den raumfahrerhaften Homunculus (Ralph Hönicke) aus der Vitrine kurbelt, purzeln die Anspielungen aufs Horror- und Science-Fiction- und Musical-Genre munter durcheinander. Pferdemensch Chiron galoppiert à la „Die Ritter der Kokosnuss“ daher und äpfelt ungeniert auf den thessalischen Hexenplatz, die aus der Unterwelt zu beschwörende Helena (Sofie A. Miller) fällt erst mal Eckermann in die Regie-Hände, und der macht sie nach allen Regeln bissigster Backstage-Satire rund („Für das Grauen sind ihre Kollegen zuständig“). Dass dann das bittere Ende der Faust-Helena-Liaison mit dem Abschuss des höhenfliegenden Sohns Euphorion (natürlich hat Mephisto die Finger am Abzug) mit einer albernen Schnulze quittiert wird, hat der wahrhaft tragische Moment nicht verdient. Da hilft eben kein Pop-Lutschbonbon. Aber sei’s drum: Ansonsten reißt die Musik mit (und manchmal reißt sie’s auch raus), die Darsteller, abgesehen von den Hauptrollen im fliegenden Rollenwechsel, singen bravourös, und Wolfgang Fuhrs Band rockt wie der Teufel.

Der kriegt am Ende übrigens doch, was er will, auch wenn er einräumen muss: „That one went mir durch die Lappen“. Denn nachdem Faust, nunmehr ein gieriger, alter Tycoon, auf den Stock gestützt und im Diktatorenmantel, seinen letzten Augenblick aushauchte, retten absprachewidrig die Englein sein Unsterbliches aus Grab und Höllenpein. Ihn und uns zieht, trotz dreier ansehnlicher Tänzerinnen, zwar nicht das Ewig-Weibliche hinan (denn diese letzte Goethe-Pointe fehlt), aber dafür zieht Mephisto einen anderen hinab; einen, der ebenso dauernd strebend sich bemüht, einen, der für den Literaturnobelpreis jeden Teufelspakt unterzeichnet; einen, der im Hochgefühl arroganter Ego-Eckermanie schon mal „Ach du meine Goethe!“ seufzt. Keine schlechte Schlussvolte, jedenfalls.

Die nächsten Vorstellungen: 30. September, 8., 14. und 26. Oktober.